Ringkampf: Roman (German Edition)
Knacken sprang der Deckelauf.
20
Das Telefon auf der Probebühne plärrte. Alexander Raven verhedderte sich in seinem labyrinthischen Satzgebilde, kehrte nochmals zum letzten klaren Komma zurück, fand den richtigen Faden abermals nicht und verstummte. Mit enervierter Handbewegung scheuchte er Reginald an den Apparat. Das Gebrüll riß ab.
»Weil, was jetzt hier in dieser Szene passiert, ist unheimlich wichtig. Es ist das Zentrum des Rings, der Schlüssel zum ganzen Drama«, versuchte er den verfransten Gedanken zusammenzufassen. »Hier entscheidet sich alles. Wotan wird sich zum ersten Mal wirklich über sich selber klar. Und in dieser verzweifelten Klarheit erkennt er auch, daß er unrettbar verloren ist, daß sein Ende kommen muß und kommen wird. Im Grunde fängt die Götterdämmerung hierin dieser Szene an.«
Der Regisseur heftete seinen Blick auf Jochen Sywoll. Der große, voluminöse Sänger, der bislang ohne persönliche Anteilnahme zugehört hatte, rückte sich gerade. Die Hospitantin, die schräg hinter ihm saß, schwang ihre Beine von der Vorderlehne.
»Schon im Rheingold haben wir gesehen, daß Wotan hilflos ist, sich selbst entfremdet«, sagte Alexander Raven speziell zu dem Sänger. »Er findet sich in seiner selbst geschaffenen Götterwelt nicht mehr zurecht. Der
scheinbar so mächtige Gott ist von Anfang an ein Spielball. Von Anfang an ist ihm unbehaglich bei all dem, was er da tun muß: Seine eigene Schwägerin an Fafner und Fasolt ausliefern, um den Bau von Walhall zu bezahlen; den Nibelungenhort und Alberichs Ring rauben, um Freia damit wieder auszulösen — bei all dem ist ihm unbehaglich, aber er weiß noch nicht, was wirklich mit ihm los ist. Er hält seine Herrschaftsfassaden aufrecht. Er zieht in Walhall ein. Das haben wir bisher gesehen.«
Der Sänger nickte mit seinem fleischigen Schädel. Alexander Raven redete fieberhaft weiter. »Im Rheingold glaubt Wotan noch, sein ganzes Problem wäre Alberich. Er denkt, daß er seine Macht, daß er sich retten kann, wenn er verhindert, daß der Nibelung den Ring von Fafner zurückerobert. Erst hier, in dieser Szene, begreift Wotan, daß seine Welt, daß er selbst sein Problem ist. Mit einem Schlag wird ihm klar, daß der Sündenfall nicht erst stattgefunden hat, als Alberich die Liebe verflucht und damit das Prinzip kalter schrankenloser Macht in die Geschichte einführt — denn eigentlich hat Alberich dieses Prinzip gar nicht eingeführt, sondern er hat es nur offengelegt. Wotan sieht, daß der Sündenfall von Anfang an in seinem eigenen, von ihm selbst errichteten System eingebaut war. Ja? Der Gott sieht, daß er bei der Erschaffung seiner Welt einen Konstruktionsfehler gemacht hat. Er erkennt, daß er nicht frei handeln kann, daß er nicht frei ist, um zu lieben, daß er sich selbst den Zwängen unterwerfen muß, mit denen er seine Herrscherrolle zementiert hat. Wie sagt er gleich?« Der Regisseur fingerte nach dem nagelneuen Klavierauszug, der sich noch unwillig vor Cora spreizte. Die Dramaturgin schob ihm das Buch hin, hielt die widerspenstigen
Seiten fest und tippte auf den Anfang einer Textzeile.
» Das sind die Bande, die mich binden: der durch Verträge ich Herr, den Verträgen bin ich nun Knecht «, las Alexander Raven vor. Er stieß das Buch zurück. »Wotan hat sich in seinem eigenen Machtnetz verstrickt«, sagte er eindringlich. »Mit einem Mal begreift er, daß er selbst es ist, der sein Ideal schon längst verraten hat. Nicht erst Alberich hat das Bündnis von Macht und Liebe zersprengt. Der Gott, der durch Liebe herrschen wollte, muß erkennen, daß er gescheitert ist.« Hektisch blätterte der Regisseur in dem Klavierauszug. Wortlos langte Cora zu ihm hinüber und schlug die richtigen Seiten auf. Er dankte es ihr mit einem verhuschten Seitenblick.
» Was ich liebe, muß ich verlassen, morden, wen je ich minne, trügend verraten wer mir traut «, deklamierte er Wort für Wort. »In diesem Satz, da drückt sich Wotans ganze, maximale Verzweiflung aus. Wenn Wotan diesen Satz ausspricht, sieht er die Götterdämmerung bereits am Horizont, will er nur noch seinen Untergang. — Das müssen wir zeigen.«
Alexander Raven lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Jochen Sywoll wischte sich mit einem kleinen Taschentuch den Schweiß von der Stirn.
»Herr Raven, verzeihen Sie«, stach eine vorsichtige Stimme in das Vakuum hinein.
»Herrgott, was ist denn?« Der Regisseur warf den Kaugummi auf den Tisch, den er unbemerkt aus seiner
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