Ringwelt 09: Ein Geschenk der Erde
Jesus Pietro sah keine Möglichkeit, wie man den Wagen aus dem Keller hätte befördern können, und auch keiner seiner Männer fand ein derartiges Schlupfloch. Das Haus mußte um den Wagen herum geformt worden sein. Natürlich, dachte Jesus Pietro; sie haben den Keller gegraben und dann das Haus darüber wachsen lassen. Er ließ seine Männer ein Loch in die Wand schneiden, damit der Wagen später abtransportiert werden konnte, falls es sich als lohnend erwies, denn dazu würden sie praktisch das ganze Haus entfernen müssen.
Sie fanden eine Treppe mit einer Falltür am oberen Ende. Jesus Pietro untersuchte die kleine Bombe unter der Falltür und gratulierte sich selbst dafür (demonstrativ in Major Chins Hörweite), daß er Major Chin nicht gestattet hatte, nach dem Eingang zu suchen. Er hätte ihn finden können. Irgendjemand entfernte die Bombe und öffnete die Falltür. Darüber befand sich das Wohnzimmer. Ein asymmetrisches Stück Grasteppich hatte widerwillig nachgegeben und war mit der Tür zur Seite geklappt. Wenn man die Tür wieder schloß, wuchs der Teppich innerhalb von zwanzig Minuten darüber nach.
Nachdem die Toten und Bewußtlosen in Gefangenenwagen gebracht worden waren, ging Jesus Pietro zwischen ihnen hindurch und verglich die Gesichter mit jenen auf dem verbliebenen Fotostapel. Er war über die Maßen erfreut. Mit Ausnahme eines einzigen Mannes hatte man alle anderen eingesammelt, einschließlich Harry Kane. Ihre Körper würden die Organbanken auf Jahre hinweg versorgen. Nicht nur die Crew würde genügend Ersatzteile zur Verfügung haben – was sie ohnehin bereits hatte –, sondern es würde auch noch genug für verdiente Diener des Regimes übrig bleiben – und das hieß: für Jesus Pietro und seine Männer. Selbst die Kolonisten würden davon profitieren. Es war durchaus nicht ungewöhnlich, daß ein kranker, aber verdienstvoller Kolonist im Hospital behandelt wurde, wenn die Vorräte ausreichten. Im Hospital behandelte man so viele wie irgend möglich. Das erinnerte die Kolonisten daran, daß die Crew in ihrem Namen regierte und daß sie nur ihr Wohlergehen im Auge hatte.
Erst bei Sonnenuntergang, als er sich zum Schlafen niederlegte, fiel Jesus Pietro wieder ein, wem das Gesicht des einzigen Vermißten gehörte. Matthew Kellers Neffe war jetzt erst knapp sechs Jahre älter als damals, als er den Streich mit dem Apfelsaft gespielt hatte.
Er sah genau wie sein Onkel aus.
Kurz vor Sonnenaufgang hörte es auf zu regnen, doch Matt wußte das nicht. Matt lag unter einer Klippe inmitten einer dichten, kleinen Baumgruppe und schlief einfach weiter.
Bei der Klippe handelte es sich um die Beta-Gamma-Klippe. Benommen, zerschunden und vollkommen außer Atem hatte er sie irgendwann vergangene Nacht erreicht. Er hatte entweder zusammenbrechen oder am Fuß der Klippe weiterrennen können. Er hatte sich für das Zusammenbrechen entschieden. Sollte die Vollstreckungspolizei ihn finden, würde er nie wieder aufwachen, und das hatte er auch gewußt, als er eingeschlafen war. Er war jedoch viel zu erschöpft gewesen, um sich darüber Gedanken zu machen.
Gegen 10 Uhr 00 wachte Matt mit schrecklichen Kopfschmerzen wieder auf. Jeder einzelne Muskel schmerzte ihn vom Laufen und vom Schlafen auf der nackten Erde. Seine Zunge fühlte sich an, als sei ein kompletter Polizeitrupp in verschwitzten Socken darüber hinweggelaufen. Er blieb auf dem Rücken liegen, blickte zu den dunklen Wipfeln der Bäume empor, die seine Vorfahren Pinien genannt hatten, und versuchte, sich an die vergangene Nacht zu erinnern.
Soviel hatte in dieser Nacht begonnen und geendet.
Die Menschen schienen sich um ihn zu drängen: Hood, Laney, die vier großen Kerle, der Junge, der hinter der Bar gesoffen hatte, der lachende Mann, der einen Crewwagen gestohlen hatte, Polly, Harry Kane und ein ganzer Wald namenloser Ellbogen und lauter Stimmen.
Alle weg. Der Mann, dessen Narbe er trug. Die Frau, die ihn einfach hatte stehen lassen. Der geniale Barkeeper. Und Laney! Wie hatte er nur Laney verlieren können?
Sie existierten nicht mehr; doch im Laufe der nächsten Jahre würden ihre Augen, ihre Adern oder ihre Organe vielleicht wieder auftauchen …
Inzwischen suchte die Polizei bestimmt auch nach Matt.
Er setzte sich auf. Jeder einzelne Muskel schrie vor Schmerz. Er war nackt. Die Vollstreckungspolizei hatte gewiß seine Kleider in Laneys Zimmer gefunden. Konnten sie die Kleidung mit ihm in Verbindung bringen? Aber selbst wenn
Weitere Kostenlose Bücher