Ringwelt 12: Weltenwandler
hätte er niemals diese tröstliche Kugel aufgegeben, zu der er sich zusammengekrampft hatte. Als er schließlich überhaupt keine Luft mehr bekam, lockerte er seine Muskeln um eine Winzigkeit, und kurz kehrten Anblicke und vertraute Klänge zurück. Empfand er sie als tröstlich? Oder hatte Nessus das Gefühl, diese Aufzeichnung würde ihn tadeln, weil er sich nicht um sie gekümmert hatte? Beides, vielleicht, und in gleichem Maße.
Doch das Einzige, was Nessus mit Sicherheit wusste, das war, dass er es nicht ertragen konnte, diese Aufzeichnung zu deaktivieren.
Schon vor langer Zeit hätte das Evakuierungsschiff Hearth erreichen sollen. Eine Nachricht hatte er nicht erhalten. Auch nicht von einer Not-Boje. Es gab keine Hoffnung mehr. Alle vermuteten, der Pilot sei vielleicht zu erpicht gewesen, wieder nach Hause zu kommen, oder zu betäubt durch das Entsetzen angesichts dieser Explosion des galaktischen Zentrums, und so hatte er ein wenig zu lange damit gewartet, das Schiff wieder aus dem Hyperraum zurückkehren zu lassen. Ein weiteres Schiff war Opfer des hungrigen Mauls einer Singularität geworden – doch an Bord dieses Schiffes hatten sich Nessus’ sämtliche Freunde und Kollegen befunden.
Aus dem Universum jenseits seines Bauches hörte er Pucks Stimmen: verzerrt und dumpf, und doch weise. Nessus stieß einen Schrei des Entsetzens aus und zog sich das Fell noch dichter über die Köpfe.
Verlassen zu werden schmerzte.
Das erste Mal lag schon unendlich weit zurück; damals hatte er noch nicht einmal den Namen ›Nessus‹ angenommen. Hatte er damals überhaupt schon gewusst, dass es noch andere Welten gab? Andere vernunftbegabte Spezies? Wahrscheinlich nicht. Damals war er gerade einmal drei Jahre alt gewesen und hatte kaum zu den Schnurrbarthaaren der Erwachsenen gereicht. Er erinnerte sich noch sehr gut daran, wie er ein wenig gelangweilt die Borke eines abgebrochenen Astes abgeschält hatte; fast hatte er das Gefühl, immer noch die Spelzen zwischen den Lippenknötchen zu spüren.
»Du bist sonderbar«, trällerte irgendjemand ihm aus den Tiefen der Herde zu. Wer es war, konnte er nicht erkennen. Andere stimmten in das Geträller ein. »Sonderbar! Sonderbar! Sonderbar!« Der Gesang erfüllte die ganze Luft. Das Echo hallte von den hohen Wänden wieder, von denen der Sportplatz umgeben war. »Sonderbar! Sonderbar! Sonderbar!«
Aus der Ferne schauten Erwachsene zu; sie hatten abschätzig die Lippen geschürzt.
»Ich bin nicht sonderbar«, widersprach er, auch wenn ihm das Wort nicht vertraut war. Doch das Verhalten der Herde, das verstand er sehr wohl: In allen Richtungen zog sich die Gruppe vor ihm zurück. Schon bald umringte ihn nur noch Leere. Ergeben senkte er die Köpfe. »Ich bin nicht sonderbar«, gurgelte er leise – und doch wusste er, das sie Recht hatten. Er musste sonderbar sein.
Und dennoch unternahmen die Erwachsenen nicht das Geringste. Sonderbar musste etwas sehr Schlechtes sein.
Seine Köpfe sanken noch tiefer herab. Ihm fielen nun einmal mehr Dinge auf als seinen Spielkameraden. War das schlecht? Er sehnte sich dennoch nach ihrer Gesellschaft. Er brauchte dennoch das Gefühl, zu irgendetwas zu gehören, Teil von etwas zu sein.
Langsam ging er auf seine Herdengefährten zu, die er für seine Freunde hielt. »Kommt, wir spielen etwas!«, sang er.
Sie stießen erschreckte Pfiffe aus und schlichen sich davon.
Verzweifelt ließ er sich zu Boden fallen. Dann krümmte er die Hälse, konnte es kaum noch ertragen, sie nicht fest gegen den eigenen Bauch zu pressen.
Irgendwann einmal hatte er sich an einem kaputten Spielzeug geschnitten. Die Wunde hatte auch wehgetan, aber längst nicht so sehr wie die erstarrten Mienen des Entsetzens, mit denen ihn seine Eltern angestarrt hatten.
Und diese Verbannung schmerzte noch viel mehr.
Und dann, nach nur einem einzigen kurzen Blick, hatte sich sein ganzes Leben verändert. Inmitten des Weidegrases, das tausende kleiner Hufe niedergetrampelt hatten, ragte ein kleiner Stein auf. Und in diesem Stein glitzerte eine Ader. Vorsichtig bewegte Nessus einen Kopf hin und her und betrachtete das Schauspiel genauer. So etwas hatte er noch nie gesehen. »Warum glitzert das so?«, fragte er laut. Dann scharrte er den Boden auf und befreite fasziniert den sonderbaren Stein von dem Wurzelgeflecht, das ihn bislang festgehalten hatte.
Wann war der Spottgesang eigentlich verstummt? Nessus hatte es nicht bemerkt. Irgendwann sah er dann, dass sich die anderen
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