Riptide - Mörderische Flut
nichts dergleichen.« Streeter schien nicht genau zu wissen, wie er sich ausdrücken sollte. »Ich stelle Sie zu St. John durch, der wird Ihnen alles erklären.«
Neidelman warf Bonterre einen raschen, fragenden Blick zu. Die Archäologin zuckte mit den Achseln.
Kurz darauf drang die Stimme des Engländers aus den Kopfhörern der Sprechanlage. »Kapitän Neidelman, hier spricht Christopher St. John. Ich bin auf der ›Cerberus‹. Scylla hat gerade mehrere Passagen des zweiten Tagebuchteils entziffert.«
»Wunderbar«, sagte Neidelman. »Aber ist das wirklich so dringend?«
»Es geht um den Inhalt dieser Passagen. Ich werde sie Ihnen vorlesen.«
Hatch, auf den Sprossen der High-Tech-Leiter im finsteren feuchten Herzen der Wassergrube, kam es so vor, als dringe die Stimme des Engländers, die nun ruhig aus Macallans Tagebuch zu zitieren begann, aus einer gänzlich anderen Welt zu ihnen herab:
Sieben Tage lang finde ich nun schon keinen Seelenfrieden. Ich weiß, daß es Ockhams Ansinnen ist, mich dereinst, wenn ich ihm bei seinem schändlichen Unterfangen nicht mehr von Nutzen sein kann, ins Jenseits zu befördern, wie er es leichten Herzens mit vielen anderen vor mir auch schon getan hat. Und so habe ich mir in den dunklen Stunden langer Nächte das Gehirn zermartert und mir meinen eigenen Plan zurechtgelegt. Dieser Schatz ist ebenso schlecht wie der Pirat Ockham selbst und hat nicht nur zahllose Elende, denen er geraubt wurde, das Leben gekostet, sondern auch viel zu unserem Unglück auf diesem vermaledeiten Eiland beigetragen. Es ist der Schatz des Teufels selbst, und als solchen will ich ihn behandeln…«
St. John hielt inne, und aus den Kopfhörern war das Rascheln von Papier zu vernehmen.
»Und deshalb sollen wir unsere Mission abbrechen?« Die Verärgerung in Neidelmans Stimme war unverkennbar.
»Hören Sie zu, Kapitän Neidelman, es geht noch weiter:
Jetzt, da die Schatzgrube fast fertiggestellt ist, läuft meine Zeit langsam ab. Meine Seele ist rein, denn unter meiner Anleitung haben der Pirat Ockham und seine Bande, ohne es zu wissen, ihren schändlich durch Raub und Mord erworbenen Reichtümern ein ewiges Grab bereitet. Niemals wird dieser Hort des Bösen wieder in menschliche Hände gelangen, dafür habe ich mit viel List und Trugwerk gesorgt. Nun ist der Schatz endlich so verborgen, daß es weder Ockham selbst noch irgendeinem anderen Menschen gelingen wird, ihn wieder aus seinem Versteck zu holen. Die Grube ist unbezwingbar, und niemand wird ihren Mechanismus besiegen. Ockham aber glaubt, er habe den Schlüssel dazu, und für diesen Glauben wird er eines Tages sterben. Ihr, die ihr dereinst diese Zeilen entziffern werdet, beherzigt meine Warnung: Die Grube zu betreten bedeutet große Gefahr für Leib und Leben, das Bergen des Schatzes aber den sicheren Tod. Ihr, die Ihr nach dem Schlüssel zu der Schatzgrube verlangt, werdet statt dessen den Schlüssel ins Jenseits finden, und Eure Gebeine werden auf halbem Weg zur Hölle verrotten, in der Eure Seelen schon lange im Feuer schmoren.«
St. John hörte auf zu sprechen, und auch die drei unten in der Grube schwiegen eine Weile. Hatch blickte Neidelman an. Sein Unterkiefer hatte leicht zu zittern begonnen, und seine Augen waren zu schmalen Schlitzen verengt.
»Verstehen Sie?« meldete sich St. John wieder zu Wort. »Es sieht so aus, als läge der wahre Schlüssel zum Geheimnis der Wassergrube in der Tatsache, daß es eben keinen solchen Schlüssel gibt. Offenbar hat sich Macallan an den Piraten gerächt, ohne daß diese es wußten: Er hat ihren Schatz so gut versteckt, daß er nie wieder gehoben werden kann. Weder von Ockham, noch von irgend jemand sonst.«
»Mir erscheint es wichtig«, mischte sich Streeter ein, »daß die Grube nicht sicher ist, bis wir nicht auch den Rest des Tagebuchs dekodiert haben. Es hat den Anschein, als habe Macallan eine tödliche Falle konstruiert, die…«
»Unsinn!« schnitt Neidelman ihm das Wort ab. »Die Gefahr, von der er spricht, ist der Mechanismus, der vor zweihundert Jahren Simon Rutter getötet und die Grube unter Wasser gesetzt hat.«
Wieder waren alle eine ganze Weile still. Hatch blickte zuerst zu Bonterre und dann zu Neidelman. Das Gesicht des Kapitäns mit seinen fest aufeinandergepreßten Lippen schien wie versteinert.
»Sir«, war Streeters Stimme wieder zu hören, »St. John sieht das etwas anders…«
»Das sind doch bloß Hypothesen«, fauchte der Kapitän. »Und außerdem haben wir unsere
Weitere Kostenlose Bücher