Riptide - Mörderische Flut
seine Lage nach. Langsam wurde ihm klar, daß es ein schwerer Fehler gewesen war, der »Cerberus« zu folgen. Wenn man ihn vorher nicht beachtet hatte, würde man wohl kaum jetzt seinetwegen beidrehen. Hinzu kam, daß das Meer hier, außerhalb des Schutzes von Ragged Island, buchstäblich kochte: Die Ost-Strömung kollidierte mit der ablaufenden Flut und türmte sich zu gefährlich hohen Kreuzseen auf. Weil das elektronische Navigationssystem nicht mehr funktionierte, mußte Clay, der selbst unter guten Bedingungen ein lausiger Navigator war, seinen Kurs mit dem Kompaß im Steuerhaus bestimmen. Nun war dort auch noch das Licht ausgefallen, so daß der Reverend die Kompaßnadel nur im Schein der rings um das Boot herniederzuckenden Blitze erkennen konnte. Zwar hätte er eine Taschenlampe in seiner Jacke gehabt, aber er brauchte beide Hände, um das Steuerrad festzuhalten.
Das Licht des Leuchtturms von Burnt Head wurde von dichten Wolken verschluckt, und das Heulen des Windes und das Tosen der Brandung waren so laut, daß Clay die Glockenboje an der Hafeneinfahrt nur dann hören würde, wenn er sie praktisch schon gerammt hatte. Er stemmte sich noch fester gegen das Steuerrad und dachte verzweifelt nach. Zurück zur Insel war es zwar nur eine halbe Meile, aber Clay wußte, daß bei diesem Wetter selbst ein exzellenter Seemann seine liebe Mühe damit hätte, das Boot unbeschadet durch die Riffe zur Pier von Thalassa zu steuern. Aber auch wenn seine wilde Entschlossenheit, auf der Insel anzulanden, inzwischen verflogen war, erachtete er es als noch viel schwieriger, die sechs Meilen nach Stormhaven hinter sich zu bringen.
Zweimal glaubte Clay, durch den Sturm die Motoren der »Cerberus« zu hören, aber das ergab keinen Sinn: Zuerst schien sich das Geräusch nach Osten, dann nach Westen zu bewegen, als würde das Schiff etwas suchen - oder auf etwas warten. Im Licht eines Blitzes sah er auf den Kompaß und änderte, während das Boot schon in ein weiteres Wellental hinabsauste, den Kurs. Jetzt, wo das kleine Schiff die Wogen in einem Winkel von neunzig Grad anging, erzitterte es in allen Fugen. Vor dem Bug baute sich eine schwarzgraue Wasserwand auf, die immer höher und höher wurde. Im letzten Augenblick erkannte Clay, daß die Kursänderung ein Fehler gewesen war, aber da brach sich auch schon die Welle direkt über dem Steuerhaus und drückte das Boot einer Riesenfaust gleich unter Wasser. Unter dem enormen Druck ging eines der Fenster zu Bruch, und ein Schwall kalten Salzwassers ergoß sich über Clay. Er schaffte es gerade noch, sich mit den Füßen einzustemmen und sich mit aller Kraft am Steuerrad festzukrallen. Das Boot erbebte und tauchte immer tiefer in die brodelnde See ein, und gerade in dem Moment, als Clay dachte, es würde endgültig kentern, spürte er zu seiner Erleichterung, wie es wieder Auftrieb bekam. Das Wasser teilte sich über dem Deck und floß nach beiden Seiten ab. Im Licht eines Blitzes sah Clay vom Kamm einer weiteren Welle aus den schäumenden, sturmzerwühlten Ozean. Dann wurde ihm klar, daß sich das Boot gedreht haben mußte. Vor ihm lagen auf einmal wieder die etwas ruhigeren Gewässer im Windschatten von Ragged Island.
Clay blickte hinauf zum schwarzen Himmel und murmelte: »O Herr, wenn es denn Dein Wille ist…« und drehte mit einem entschlossenen Ruck am Steuerrad den Bug vollends in Richtung auf die Insel. Ein weiterer Wasserschwall stürzte durch das zerborstene Fenster herein, während das Boot erneut in ein Wellental glitt. Clay spürte, daß sich die Wogen ringsum zumindest etwas beruhigt hatten, wenn auch nur im Vergleich zu dem Sturm, der weiter draußen auf dem Meer tobte. Auch vor der Insel war die See noch unruhig genug, aber wenigstens gehorchte das Boot hier wieder dem Ruder, so daß Clay direkt auf die Pier zusteuern konnte. Er gab etwas mehr Gas und hörte, wie das Geräusch des Dieselmotors lauter wurde.
Durch die erhöhte Geschwindigkeit schien das Boot etwas stabiler im Wasser zu liegen. Es pflügte in gerader Linie durch die Wogen, erklomm einen Wellenkamm und glitt dann wieder nach unten. Ohne den Suchscheinwerfer war es schwierig, die Riffe zu orten. Clay fragte sich, ob er den Motor nicht vielleicht doch etwas drosseln sollte, für den Fall, daß…
Es war zu spät. Mit einem gewaltigen Knall schlug der Boden des Bootes gegen das Riff. Die Wucht des Aufpralls schleuderte Clay nach vorn gegen das Steuerrad, wo er sich das Nasenbein brach, und dann an die
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