Riptide - Mörderische Flut
als ich sie mir vorgestellt hatte.«
»Und außerdem hat sie keinen natürlichen Hafen«, ergänzte Hatch. »Darüber hinaus ist sie von den Riffen umgeben, und zudem gibt es eine gefährliche Rückströmung. Die Insel liegt ungeschützt im offenen Meer, so daß ihr im Herbst die Nordost-Stürme ganz schön zusetzen. Im Landesinnern hat man so viele Tunnels gegraben, daß es ein äußerst gefährliches Unterfangen ist, sich dort fortzubewegen. Viele dieser Tunnels sind mit Wasser vollgelaufen. Zu allem Überfluß haben einige Expeditionen auch noch mit Sprengstoff hantiert, so daß nicht explodierte Ladungen und Zünder und weiß Gott was sonst noch alles herumliegen, das bei der kleinsten Berührung in die Luft fliegen könnte.«
»Was ist das für ein Wrack?« fragte Neidelman und deutete auf ein großes Metallgebilde, das verbeult und verrostet oberhalb der mit glitschigem Seegras behangenen Felsen lag.
»Das ist ein Lastkahn, der noch aus der Zeit meines Großvaters stammt. Er war damals vor der Küste verankert und hatte einen Schwimmkran an Bord, aber dann erwischte ihn ein NordostSturm und warf ihn auf die Felsen. Als die See mit dem Kahn fertig war, gab es nicht mehr viel, was sich zu bergen lohnte. Das war zugleich auch das Ende der Unternehmungen meines Großvaters.«
»Hat Ihr Großvater Ihnen vielleicht irgendwelche Aufzeichnungen hinterlassen?« fragte Neidelman.
»Mein Vater hat sie komplett vernichtet«, antwortete Hatch und schluckte schwer. »Mein Vater haßte die Insel und alles, was damit zu tun hatte, weil mein Großvater mit dem Kauf von Ragged Island unsere Familie in den finanziellen Ruin getrieben hat. Schon vor dem Unfall…« Seine Stimme wurde leiser, und seine Hände krampften sich wieder um das Steuerrad. Mit starrem Blick schaute er nach vorne.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte Neidelman, dessen Gesicht nun einen sanfteren Ausdruck annahm. »Ich lasse mich von all dem hier so mitreißen, daß ich manchmal Ihre persönliche Tragödie vergesse. Verzeihen Sie mir, wenn ich Ihnen eine taktlose Frage gestellt habe.«
Hatch stierte weiter über den Bug nach vorn. »Ist schon in Ordnung.«
Neidelman verstummte, und Hatch war ihm dankbar dafür. Nichts war schmerzhafter für ihn als die üblichen Platitüden wohlmeinender Leute. Am schlimmsten fand er Sprüche wie: Machen Sie sich keine Vorwürfe, es war ja nicht Ihre Schuld.
Die »Plain Jane« umrundete jetzt die Südspitze der Insel und kam damit breitseits zur Dünung. Hatch gab etwas mehr Gas, damit das Boot Fahrt aufnahm.
»Es ist schon ein merkwürdiger Gedanke«, murmelte Neidelman. »daß nichts als diese kleine Insel aus Fels und Sand uns von dem größten Schatz trennt, der je vergraben wurde.«
»Vorsichtig, Kapitän Neidelman«, entgegnete Hatch und hoffte, daß er mit seiner Warnung einen nicht allzu ernsten Ton anschlug. »Genau diese euphorische Denkweise hat bereits ein Dutzend Bergungsgesellschaften in den Bankrott getrieben. Nehmen Sie sich lieber dieses alte Gedicht zu Herzen:
Heilig bewahrt des Tempels Mauer
für alle Zeiten ihren Schrein.
Und nicht einmal für kurze Dauer
wird jemals sie die meine sein. «
Neidelman sah ihn an. »Offenbar haben Sie auch noch etwas anderes als Anatomiebücher und Arzneimittellisten gelesen. Nicht viele Quacksalber können Conventry Patmore zitieren.« Hatch zuckte mit den Achseln. »Ab und zu lese ich ganz gerne mal ein Gedicht. Ich genieße es wie ein gutes Glas Portwein. Und was für eine Entschuldigung haben Sie?«
Ein rasches Lächeln huschte über Neidelmans Gesicht. »Ich habe mehr als zehn Jahre meines Lebens auf See verbracht. Da kann man manchmal nicht viel anderes tun als lesen.«
Von der Insel her ertönte auf einmal ein Geräusch, das wie ein feuchtes Husten klang. Es wurde immer lauter, bis es in ein tiefes Grummeln und schließlich in ein kehliges, ständig anschwellendes Stöhnen überging. Der Todesschrei einer Tiefseekreatur? Hatch bekam eine Gänsehaut.
»Was um alles in der Welt ist denn das?« fragte Neidelman besorgt.
»Die Flut hat ihren höchsten Stand erreicht«, erwiderte Hatch, der in der kühlen, feuchten Luft leicht zu zittern begann. »Die Wassergrube ist vermutlich durch einen verborgenen Tunnel mit dem Meer verbunden, und wenn der Tidenstrom umkehrt und das Wasser im Tunnel in die andere Richtung fließt, dann hört man dieses Geräusch. So lautet zumindest eine von vielen Theorien.«
Das Stöhnen hielt an, bis es mit der Zeit in ein leises
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