Riptide - Mörderische Flut
passiert?« rief Hatch und nahm sein Notbesteck aus der Bereitschaftstasche.
»Ein Mann vom Vermessungteam ist in den Schacht gefallen«, antwortete Streeter. »Sein Name ist Ken Field. Wir haben ihm ein Seil hinuntergeworfen, aber das hat sich wohl an einem Balken verfangen und einen Teil des Schachtes zum Einsturz gebracht. Jetzt sind Kens Beine unter dem Balken eingeklemmt, und das Wasser steigt rasch. Wir haben noch höchstens drei Minuten, um ihn zu retten, mehr nicht.«
»Holt ihm eine Preßluftflasche!« rief Hatch, während er dem Mann an der Winsch ein Zeichen gab, daß er ihn hinablassen solle.
»Dazu ist keine Zeit mehr«, antwortete Streeter. »Die Taucher sind viel zu weit draußen auf dem Meer.«
»Sie kümmern sich ja wirklich toll um Ihre Leute.«
»Ken hängt schon am Seil«, fuhr Streeter nach einer kurzen Pause fort. »Schneiden Sie ihn da raus, damit wir ihn hochziehen können.«
Rausschneiden? schoß es Hatch durch den Kopf, während er über den Rand des Schachtes geschoben wurde. Bevor er noch länger nachdenken konnte, hing er in der Luft, und das ohrenbetäubende Brüllen des Wassers, das aus dem Schacht heraufstieg, wurde noch lauter. Einen Augenblick lang sauste er fast in freiem Fall nach unten, dann brachte ihn das Seil direkt neben den beiden Rettern abrupt zum Halten. Er versuchte, sich an der Wand des Schachtes abzustützen, und blickte nach unten.
Der Mann lag auf dem Rücken und war unter einem massiven Balken eingeklemmt, der von seinem linken Knöchel bis zu seinem rechten Knie schräg über seinen Beinen lag. Als Hatch ihn ansah, öffnete der Mann den Mund und stieß einen lauten Schmerzensschrei aus. Einer der Helfer schaufelte mit den Händen Steine und Erde weg von dem Mann, während der andere mit einer schweren Axt auf den Balken eindrosch. Späne flogen kreuz und quer herum, und der Schacht war erfüllt vom Geruch verrotteten Holzes. Unter den drei Männern sah Hatch das Wasser, das mit beängstigender Geschwindigkeit anstieg.
Er wußte sofort, daß die Mühe der Helfer vergebens war. Es würde ihnen niemals gelingen, den Balken rechtzeitig durchzuhauen. Er warf einen Blick auf das steigende Wasser und stellte im Kopf eine überschlagsmäßige Rechnung an: keine zwei Minuten mehr, dann würde es den Mann erreicht haben. Das war sogar noch früher, als Streeter geschätzt hatte. Rasch ging Hatch seine Möglichkeiten durch und kam zu dem Schluß, daß ihm eigentlich nur eine einzige blieb. Er hatte nicht einmal genügend Zelt, um dem Mann ein Schmerzmittel oder eine Betäubung zu verabreichen. Verzweifelt wühlte er in seinem Notbesteck herum. Es enthielt ein paar Skalpelle, mit denen man vielleicht einen eingewachsenen Zehennagel hätte behandeln können, mehr aber auch nicht. Er warf sie beiseite und wand sich aus seinem Hemd. »Überzeugen Sie sich, daß er fest an dem Seil hängt«, sagte er zu einem der beiden Helfer. »Und dann nehmen Sie meine Tasche und machen Sie, daß Sie nach oben kommen!«
Hatch riß sein Hemd In zwei Teile, drehte einen der Ärmel zu einer Art Strick zusammen und band ihn zehn Zentimeter oberhalb des Knies um das linke Bein des Eingeklemmten. Der andere Ärmel kam um den rechten Oberschenkel, und dann zog Hatch erst den einen, dann den anderen Ärmel zu und verknotete beide, so fest er nur konnte.
»Geben Sie mir die Axt!« verlangte er von dem verbliebenen Helfer. »Und dann machen Sie sich bereit, ihn hochzuziehen.«
Wortlos reichte der Mann ihm die Axt, und Hatch stellte sich mit gespreizten Beinen über den Eingeklemmten. Dann hob er langsam die Axt.
Der Eingeklemmte riß die Augen weit auf. Auf einmal verstand er, was Hatch vorhatte. »Nein!« schrie er. »Nicht!«
Hatch ließ die Axt, so fest er konnte, auf das linke Schienbein des Mannes herniedersausen. Als sie sich in den Knochen grub und der nach einem kaum merklichen Widerstand nachgab, hatte Hatch den Bruchteil einer Sekunde lang das seltsame Gefühl, als schlüge er den grünen Stamm eines jungen Baumes durch. Der Schrei des Mannes verstummte abrupt, doch seine Augen blieben offen. Vor Schmerz krampfte er sich so sehr zusammen, daß die Sehnen an seinem Hals hervortraten. Ein häßlicher, unregelmäßiger Schnitt klaffte an seinem Bein, und Hatch sah einen Moment lang das Rot des Fleisches und das Weiß des Knochens. Dann quoll Blut aus der Wunde, das sich mit dem heraufschäumenden Wasser vermischte. Rasch schlug Hatch ein zweites Mal zu und trennte damit das Bein
Weitere Kostenlose Bücher