Riptide - Mörderische Flut
Zähnen.
Hatch sah, daß das Gesicht des Mannes dunkelrot angelaufen war. Eine Ader an seiner Schläfe zuckte vor Wut. Ich werde mich wohl später bei ihm entschuldigen müssen, dachte er. Aber der Mann soll sich nicht so haben, schließlich ist ja nicht er derjenige, der den Rest seines Lebens ohne Beine verbringen muß.
Wieder blickte Hatch hinaus aufs Meer, wo er am Horizont auf einmal einen dunklen, rasch größer werdenden Punkt entdeckte.
Kurz darauf war bereits das dumpfe Wummern der großen Rotorblätter zu hören, und dann rauschte der Helikopter über die Insel, flog eine scharfe Kurve und näherte sich langsam der kleinen Gruppe neben dem Schacht. Der Wind der Rotorblätter peitschte das Riedgras und wirbelte Hatch Sand in die Augen. Eine Tür an der Seite des Hubschraubers ging auf, und schwankend wurde ein Rettungskorb heruntergelassen. Nachdem sie den Verletzten in den Korb geschnallt hatten, wurde er nach oben gezogen. Dann signalisierte Hatch dem Hubschrauber, ihn ebenfalls an Bord zu nehmen. Als er sicher oben war, schloß der Sanitäter die Tür und gab dem Piloten ein Zeichen. Der Hubschrauber neigte sich nach rechts und flog mit südwestlichem Kurs davon.
Hatch sah sich um. Über dem Verletzten hing bereits ein Beutel mit Kochsalzlösung, außerdem waren eine Sauerstoffmaske und ein kleines Gestell mit Antibiotika und sterilem Verbandszeug an Bord.
»Wir hatten leider kein Blut Gruppe null negativ«, sagte der Sanitäter.
»Kein Problem«, erwiderte Hatch. »Sie haben alles richtig gemacht. Aber wir sollten ihn schleunigst an den Tropf hängen, um so seine Blutmenge zu vergrößern.« Hatch sah, wie ihn der Sanitäter erstaunt musterte, und bemerkte erst jetzt, daß er mit seinem nackten, schlamm-und blutverschmierten Oberkörper nicht gerade so aussah, wie man sich einen Landarzt aus Maine vorstellt.
Der Verletzte stöhnte leise und fing an, sich auf der Trage hin- und herzuwälzen.
Eine Stunde später stand Hatch alleine in der Stille des leeren Operationssaals, der immer noch nach Desinfektionsmittel und Blut roch. Ken Field, der Verletzte, befand sich im Raum nebenan unter der Obhut des besten Chirurgen in Bangor. Seine Beine hatte man zwar nicht wiedergefunden, aber wenigstens war er außer Lebensgefahr. Hatch hatte getan, was er konnte.
Er atmete tief ein und langsam wieder aus, als könne er damit all das Gift wieder loswerden, das er im Laufe des Tages in sich angesammelt hatte. Noch ein paarmal schnaufte er tief durch, dann stützte er die Ellbogen auf den Operationstisch und preßte sich die geballten Fäuste fest an die Schläfen. Das hätte alles nicht passieren müssen, flüsterte ihm eine kalte Stimme in seinem Kopf zu. Bei dem Gedanken, wie er gemütlich auf der »Plain Jane« sein Mittagessen verspeist und die Möwen gefüttert hatte, wurde ihm fast übel. Er verfluchte sich, daß er nicht auf der Insel gewesen war, daß er Neidelman gestattet hatte, mit der Arbeit zu beginnen, bevor er seine Arztpraxis dort installiert hatte. Es war das zweite Mal gewesen, daß er die Insel unterschätzt, das zweite Mal, daß sie ihn kalt erwischt hatte. Nie wieder, schwor er sich wutentbrannt, das passiert mir nie wieder!
Als er langsam wieder ruhiger wurde, drängte sich ein weiterer Gedanke in sein Bewußtsein. Er hatte heute zum ersten Mal seit dem Tod seines Bruders einen Fuß auf Ragged Island gesetzt. Aber es war ein Notfall gewesen, und er hatte keine Zeit zum Überlegen gehabt. Jetzt, als er in dem halbdunklen Operationssaal mit seinen Gedanken allein war, mußte er alle seine Kräfte aufbieten, um nicht in ein unkontrolliertes Zittern zu verfallen.
9
Doris Bowditch, Ihres Zeichens staatlich anerkannte Immobilienmaklern, stieg entschlossenen Schrittes die Stufen zu dem Haus an der Ocean Lane Nummer fünf hinauf. Die alten Bretter der Veranda knarzten unter ihrem Gewicht, und als sie sich an der Haustür nach vorn beugte, um den Schlüssel ins Schloß zu stecken, erinnerte das Klimpern ihrer vielen silbernen Armreifen Hatch an die Glöckchen eines Schlittens. Doris Bowditch fummelte ein wenig mit dem Schlüssel herum, dann drehte sie den Knauf und öffnete mit einer leicht übertriebenen Geste die Tür.
Hatch ließ erst Doris in ihrem wehenden weiten Kleid das kühle dunkle Haus betreten und folgte ihr dann langsam. Schon nach dem ersten Schritt traf es ihn wie ein Schlag in die Magengrube: Hier hing noch immer derselbe bekannte Geruch nach altem Fichtenholz, Mottenkugeln und
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