Riptide - Mörderische Flut
Pfeifenrauch in der Luft, den er über fünfundzwanzig Jahre lang nicht in der Nase gehabt hatte und den er doch sofort wiedererkannte. Am liebsten hätte er gleich wieder kehrtgemacht und wäre hinaus ins helle Sonnenlicht getreten, bevor die mit diesem Geruch verbundenen Erinnerungen an seine Kindheit alle seine Abwehrmechanismen außer Kraft setzen konnten.
»Na, was meinen Sie?« hörte er die Stimme von Doris sagen, die inzwischen die Tür geschlossen hatte. »Ist das nicht ein herrliches altes Haus? Ich sage immer, daß es eine Schande ist, es so lange leerstehen zu lassen!« Wie ein rosa gewandeter Tornado wirbelte die Frau in die Mitte des Zimmers. »Und? Wie gefällt es Ihnen?«
»Gut«, antwortete Hatch und tat einen zögerlichen Schritt nach vorn. Der Salon war noch genau so wie an jenem Tag, an dem seine Mutter schließlich aufgegeben hatte und nach Boston übersiedelt war. Die mit Chintz bezogenen Lehnsessel, das alte Leinensofa, die Druckgrafik der »HMS Leander« über dem Kamin und das Herkeimer-Klavier mit dem runden Hocker und dem gestickten Teppich davor -alles war noch genau so, wie er es in Erinnerung hatte.
»Die Pumpe ist generalüberholt, die Fenster sind frisch geputzt, der Strom ist angestellt und der Propangastank gefüllt«, plapperte Doris weiter und hakte jeden Punkt mit ihren langen rotlackierten Fingernägeln ab.
»Es sieht alles sehr hübsch aus«, sagte Hatch abwesend. Er trat an das alte Klavier und ließ die Finger über den Tastendeckel gleiten. Dabei dachte er an die Winternachmittage, an denen er sich hier mit den Fugen von Johann Sebastian Bach abgemüht hatte. In dem Regal neben dem Kamin stand noch der alte Würfelbecher neben dem Monopoly-Spiel, dessen Deckel schon in Hatchs Jugend verlorengegangen war. Hatch sah die rosaroten, gelben und grünen Scheine des Spielgeldes, die vom vielen Gebrauch verknittert und eingerissen waren. Auf dem Regalbrett darüber lagen mehrere Päckchen speckiger Spielkarten, die von Gummibändern zusammengehalten wurden. Es gab Hatch einen Stich ins Herz, als er sich daran erinnerte, wie er mit Johnny um Streichhölzer gepokert und dabei leidenschaftlich mit ihm darüber gestritten hatte, was nun mehr gelte: eine Straße oder ein Full House . Es war alles noch da, jeder einzelne Gegenstand lag noch genau an seinem angestammten Platz. Hatch kam es so vor, als habe er ein Museum voller schmerzlicher Erinnerungen betreten.
Als er und seine Mutter von hier fortgegangen waren, hatten sie kaum mehr als ihre Kleider mitgenommen. Schließlich hatten sie ja nicht länger als einen Monat wegbleiben wollen, aber dann war aus dem Monat ein Sommer geworden, dann ein Jahr, und irgendwann einmal war das alte Haus ihnen wie ein längst vergessener Traum vorgekommen. Nie wieder hatte seine Mutter es auch nur erwähnt, aber trotzdem war es immer hier gewesen und hatte auf Hatch gewartet. Er fragte sich, weshalb seine Mutter es nie verkauft hatte, denn schließlich hatte sie es in Boston in finanzieller Hinsicht nicht immer leicht gehabt. Ebenso verwunderlich fand er es im nachhinein, daß er seinerseits das Haus nach ihrem Tod behalten hatte.
Langsamen Schrittes ging er ins Wohnzimmer und trat an das große Fenster, von dem aus er hinaus auf das tiefblaue, von der Morgensonne beschienene Meer sehen konnte. Da draußen hinter dem Horizont lag irgendwo Ragged Island, das nun nach mehr als einem Vierteljahrhundert ein weiteres Opfer gefordert hatte. Unter dem Eindruck des Unfalls hatte Neidelman die Arbeiten einen Tag lang einstellen lassen, so daß Hatch jetzt Zeit hatte, sich um das Haus zu kümmern. Er ließ den Blick vom Meer auf die Wiese vor dem Fenster wandern, die wie ein grüner Teppich hinunter zum Strand führte, und rief sich noch einmal ins Gedächtnis, daß er nicht hier wohnen mußte, daß er sich immer noch eine andere Unterkunft suchen konnte, in der er nicht mit den Schatten der Vergangenheit zu kämpfen hätte. In Stormhaven allerdings würde er eine solche nicht finden. Als Hatch am Morgen in die Stadt gefahren war, hatte er vor der einzigen Pension des Ortes ein gutes Dutzend Angestellte von Thalassa gesehen, die alle für die fünf zu vermietenden Zimmer Schlange gestanden waren. Hatch seufzte. Solange er hier war, würde er wohl in den sauren Apfel beißen müssen.
Staubflocken schwebten durch die schräg einfallenden Strahlen der Morgensonne. Während er so vor dem Fenster stand, gewann Hatch den Eindruck, als würde die Zeit sich
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