Riptide - Mörderische Flut
nicht fürchterlich, daß gestern diese zwei Männer getötet wurden? Welch ein schrecklicher Unfall!«
Hatch drehte sich ganz langsam zu ihr um. »Wie bitte? Zwei Männer sollen tot sein? Das stimmt nicht, Doris. Nicht einmal einer ist ums Leben gekommen. Aber es ist tatsächlich ein Unfall passiert. Wer hat Ihnen denn davon erzählt?«
Doris blickte ihn ein wenig verwirrt an. »Na, Hilda McCall, wer denn sonst? Sie betreibt hier den Frisiersalon, ›Hilda's Hairstyling‹. Nun, wie dem auch sei: Wenn Sie erst mal all das Geld haben, werden Sie doch sicher nicht hierbleiben wollen. Und dann könnten Sie doch…«
Hatch machte einen Schritt nach vorn und hielt Ihr die Tür auf. »Vielen Dank, Doris«, sagte er, wobei er versuchte, sie anzulächeln. »Das Haus Ist wirklich in einem exzellenten Zustand.«
Vor der Schwelle blieb die Maklerin noch einmal stehen. »Ach, übrigens, der Mann des jungen Paares ist ein äußerst erfolgreicher Anwalt. Und die beiden Kinder, ein Junge und ein Mädchen, sind…«
»Vielen Dank«, wiederholte Hatch ein wenig bestimmter als vorhin.
»Gern geschehen. Wissen Sie, ich glaube, zweihundertfünfzigtausend sind ein guter Preis für ein Sommer…«
Hatch trat hinaus auf die Veranda, so daß die Maklerin ihm folgten mußte, wenn sie weiter mit ihm sprechen wollte.
»Die Preise für Immobilien sind im Moment ziemlich hoch, Dr. Hatch«, erklärte sie, während sie aus dem Haus kam, »und niemand kann sagen, wann sie wieder fallen werden. Vor acht Jahren zum Beispiel…«
»Doris, Sie sind wirklich ein Schatz, und ich werde Sie allen meinen Kollegen empfehlen, die nach Stormhaven ziehen wollen. Nochmals herzlichen Dank, und schicken Sie mir doch bitte Ihre Rechnung.« Mit diesen Worten machte Hatch schnell einen Schritt zurück ins Haus und schloß leise, aber rasch die Tür.
Hatch wartete und fragte sich, ob die Frau wohl die Frechheit besitzen und klingeln würde. Aber sie blieb lediglich eine Weile unentschlossen auf der Veranda stehen, bis sie schließlich mit wehendem Kleid und ihrem unauslöschlichen Lächein auf den Lippen zurück zu ihrem Wagen ging. Sechs Prozent Provision von zweihundertfünfzigtausend Dollar waren hier in Stormhaven eine Menge Geld, dachte Hatch. Er erinnerte sich vage daran, von irgend jemandem einmal gehört zu haben, daß Doris Bowditchs Mann ein Säufer sei, der sein Boot an die Bank verloren habe. Sie kann ja gar nicht wissen, wie ich mich fühle, ging es ihm durch den Kopf, während er versuchte, in seinem Herzen etwas Mitleid für die Maklerin aufzubringen.
Hatch spazierte zurück in den Salon, setzte sich auf den kleinen Hocker vor dem Klavier und schlug leise den ersten Akkord von Chopins Prelude in E-Moll an. Wenigstens hatte Doris sich genau an das gehalten, was er ihr aufgetragen hatte: »Machen Sie das Haus sauber und bereiten Sie es auf meine Ankunft vor, aber lassen Sie alles so, wie es war.« Verträumt und pianissimo spielte er das Prelude zu Ende und versuchte, seinen Kopf frei von Gedanken zu kriegen. Es war schwer zu begreifen, daß er jahrzehntelang diese Tasten nicht berührt, nicht auf diesem Hocker gesessen und nicht einmal dieses Haus betreten hatte. Überall, wo er auch hinblickte, sprangen ihn die Erinnerungen an seine glückliche Kindheit an. Und das war sie auch wirklich gewesen: glücklich. Bis zu jenem schrecklichen Tag, an dem sie für immer zu Ende gegangen war. Wenn ich doch bloß nicht…
Brutal brachte Hatch die kalte hartnäckige Stimme in seinem Kopf zum Schweigen.
Zwei Tote, hatte Doris gesagt. Das war eine ziemliche Übertreibung, sogar für den Klatsch einer so kleinen Stadt. Bis jetzt schien Stormhaven seine auswärtigen Besucher mit einer Art gastfreundlicher Neugier akzeptiert zu haben, denn immerhin verhalfen sie den Geschäftsleuten am Ort ja zu mehr Umsatz. Trotzdem erkannte Hatch, daß man eine Art Verbindungsmann zwischen Thalassa und der Gemeinde brauchte, wenn die bizarren Gerüchte in Buds Supermarkt oder Hildas Frisiersalon nicht allzusehr ins Kraut schießen sollten. Wenig begeistert machte er sich klar, daß für diese Aufgabe eigentlich nur er selbst in Frage kam.
Hatch blieb noch eine Weile am Klavier sitzen. Wenn er Glück hatte, dann war der alte Bill Banns noch immer Chefredakteur der Lokalzeitung. Mit einem lauten Seufzer stand er auf und ging in die Küche, wo eigentlich eine Dose Nescafe und -falls Doris es nicht vergessen hatte - ein funktionierendes Telefon auf ihn warten
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