Riptide - Mörderische Flut
darüber?« fragte Neidelman wie nebenbei. Er schien sich ganz auf das Eingießen des Portweins zu konzentrieren und sah Hatch nicht an.
»Wenn ich glauben würde, daß wir scheitern, wäre ich nicht mit von der Partie. Aber ich muß Ihnen ganz ehrlich sagen, daß mir der heutige Fehlschlag schon zu denken gegeben hat.«
»Das kann ich Ihnen nicht verübeln, Malin«, sagte Neidelman fast sanft. »Ich muß zugeben, daß auch ich einen Augenblick lang ziemlich verzweifelt war, als wir das Wasser nicht mehr aus dem Schacht rausbekamen. Aber trotzdem bin ich nach wie vor felsenfest überzeugt, daß wir Erfolg haben werden. Ich weiß jetzt, wo wir einen Fehler gemacht haben.«
»Ich vermute, daß es mehr als fünf Flutstollen gibt«, sagte Hatch. »Oder vielleicht ist es irgendein hydraulischer Trick, mit dem Macallan uns zum Narren hält.«
»Kann durchaus sein. Aber ich habe eben etwas anderes gemeint. Wissen Sie, wir haben unser Augenmerk bisher ausschließlich auf die Wassergrube konzentriert. Jetzt aber ist mir klargeworden, daß sie gar nicht unser eigentlicher Gegner ist.«
Hatch zog fragend die Augenbrauen hoch, und der Kapitän sah ihm, die Pfeife fest in der Hand, mit funkelndem Blick direkt ins Gesicht.
»Nicht die Grube ist unser Gegenspieler, sondern der Mann, der sie entworfen hat. Macallan. Er war uns bisher immer einen Schritt voraus. Er hat alle unsere Aktionen vorausgesehen, ebenso wie die der Schatzsucher, die vor uns kamen.«
Neidelman stellte sein Glas auf den filzbezogenen Tisch, trat an eine der Wände und klappte ein Stück der Vertäfelung auf. Dahinter kam ein kleiner Safe zum Vorschein, dessen Tür sich nach Eingeben einer Nummernkombination öffnen ließ. Neidelman griff hinein und holte etwas heraus, das er vor Hatch auf den Tisch legte. Es war ein ledergebundener Quartband: Macallans Buch »Über den Kirchenbau«. Vorsichtig schlug der Kapitän es auf und strich mit seinen langen Fingern liebevoll über die Seiten.
Am Rand neben dem gedruckten Text sah Hatch in einer sorgfältigen zierlichen Handschrift geschriebene Buchstaben, deren blaßbraune Farbe ihn fast an ein Aquarell erinnerte. Es waren Zeilen um Zeilen von wie zufällig aneinandergereihten Buchstaben, die nur ab und zu durch kleine präzise Skizzen von verschiedenen Holzverbindungen, Bögen, Streben und Trägern aufgelockert wurden.
Neidelman tippte mit dem Finger auf die Seite. »Wenn die Wassergrube Macallans Rüstung ist, dann ist das hier die Schwachstelle, an der man sie mit einem Dolch durchdringen kann. Sehr bald werden wir auch die zweite Hälfte des Tagebuchs entschlüsselt haben, und damit dürfte das Geheimnis des Schatzes gelüftet sein.«
»Weshalb sind Sie so sicher, daß dieses Tagebuch die dazu nötigen Informationen enthält?« fragte Hatch.
»Weil alles andere keinen Sinn ergibt. Warum sollte Macallan denn sonst ein geheimes Tagebuch geführt haben, in das er nicht nur verschlüsselt, sondern auch mit unsichtbarer Tinte schrieb? Erinnern Sie sich, daß Red Ned Ockham von Macallan eine uneinnehmbare Festung für seinen Schatz wollte? Eine Festung, die ihren Plünderern nicht nur widerstehen, sondern diese durch Ertränken, Zerquetschen oder was auch immer zudem physisch vernichten sollte. Aber niemand baut eine Bombe, ohne sich vorher genau zu überlegen, wie er sie auch wieder entschärfen kann. Auch Macallan mußte bei seiner Konstruktion eine Möglichkeit vorsehen, wie Ockham selber an seinen Schatz gelangen konnte, wenn er das wollte. Vielleicht hat er dafür einen Geheimstollen entworfen oder einen Trick, die Todesfallen auszuschalten.« Neidelman blickte vom Buch auf und hinüber zu seinem Gast. »Aber dieses Tagebuch enthält mehr als nur den Schlüssel zur Wassergrube. Es gibt uns einen Einblick in das Gehirn des Mannes, den es zu besiegen gilt.« Der Kapitän sprach mit derselben leisen, aber merkwürdig kraftvollen Stimme wie am Vormittag.
Hatch beugte sich über das Buch, das nach verschimmeltem Leder, Staub und Trockenfäule roch. »Eines erstaunt mich aber schon«, sagte er. »Und zwar, daß ein Architekt, der von Piraten entführt und auf einer gottverlassenen Insel von ihnen zur Arbeit gezwungen wird, auch noch den Nerv hat, ein geheimes Tagebuch zu schreiben.«
Neidelman nickte bedächtig. »Macallan war sicherlich alles andere als ein Feigling. Vielleicht wollte er mit seinen Aufzeichnungen ja der Nachwelt seine geniale Konstruktion überliefern. Schwer zu sagen, was ihn wirklich dazu
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