Riptide - Mörderische Flut
standen im Süden von Monhegan Island am rosa gefärbten Abendhimmel. Die Wolken reichten fast zehntausend Meter hinauf in die Atmosphäre, und ihr stahlblaues Inneres blitzte vor elektrischer Spannung. Ein typisches Sommergewitter braute sich da zusammen, das Blitz und Donner und heftigen Regen bringen würde, aber doch nicht die Kraft besaß, um für gefährlichen Seegang zu sorgen.
Obwohl der Supermarkt in Southport, am Standard von Cambridge gemessen, ziemlich dürftig bestückt war, bot er doch eine ganze Reihe von Artikeln, die man in Buds Laden vergeblich suchte. Bevor Hatch aus seinem Jaguar stieg, blickte er sich vorsichtig um. Er wollte nicht, daß jemand aus Stormhaven ihn hier sah und Bud von seinem Verrat erzählte. Hatch grinste vor sich hin, als ihm plötzlich bewußt wurde, wie seltsam dieses Kleinstadtverhalten doch einem Bürger von Boston erscheinen würde.
Als er wieder zu Hause war, kochte sich Hatch eine Kanne Kaffee und bereitete den Lachs mit Zitronensaft, Dill und Spargel zu. Während der Fisch vor sich hinköchelte, machte er eine Soße aus Meerrettichmayonnaise, die er mit Curry abschmeckte. Weil der Großteil des Eßtisches mit einer grünen Plane abgedeckt war, räumte er sich am unteren Ende einen Platz für seinen Teller frei und aß den Lachs, wobei er die »Stormhaven Gazette« las. Er fand es enttäuschend und beruhigend zugleich, daß die Schatzsuche auf Ragged Island von der ersten Seite auf die zweite gewandert war. Das Hummerfest und ein Elch, der in den Lagerraum von Kai Estensons Eisenwarenhandlung eingedrungen und dort Amok gelaufen war, bis ihn staatliche Wildhüter mit einem Betäubungsgewehr ruhiggestellt hatten, waren offenbar würdigere Aufmacherthemen gewesen. Der Artikel über die Schatzsuche sprach von »exzellenten Fortschritten trotz einiger kleiner Rückschläge« und erwähnte, daß der Mann, der in der vergangenen Woche einen Unfall erlitten hatte, inzwischen aus dem Krankenhaus entlassen worden sei und sich nun zu Hause erhole. Auf Hatchs ausdrücklichen Wunsch wurde sein eigener Name in dem Artikel nicht erwähnt.
Als er mit seiner Mahlzeit fertig war, stellte Hatch das schmutzige Geschirr ins Spülbecken und ging wieder zurück ins Eßzimmer. Nachdem er sich eine frische Tasse Kaffee eingeschenkt hatte, zog er die grüne Plane vom Tisch, unter der auf einem Tuch zwei der Skelette lagen, die Bonterre tags zuvor ausgegraben hatte. Hatch hatte sich die beiden am besten erhaltenen aus dem erschreckend gut gefüllten Massengrab herausgesucht und sie hierher in sein Haus geschafft, wo er sie in aller Ruhe untersuchen konnte.
Die Knochen waren sauber und hart und hatten von dem eisenhaltigen Boden der Insel eine hellbraune Färbung angenommen. In der trockenen Luft des Hauses rochen sie nur schwach nach Erde und Moder. Hatch trat mit in die Seite gestemmten Armen einen Schritt zurück und betrachtete die Skelette und die paar rostigen Metallknöpfe, Gürtelschnallen und Schuhnägel, die man neben ihnen gefunden hatte. Eines der Skelette hatte sogar einen goldenen Ring getragen, der mit seinem minderwertigen Granat mehr historischen als materiellen Wert besaß. Hatch nahm den Ring, probierte ihn an seinem kleinen Finger, und als er paßte, ließ er ihn dran. Irgendwie gefiel ihm die Verbindung, die er auf diese Weise zu dem toten Piraten herstellen konnte.
Sommerliches Zwielicht lag auf der Wiese vor dem offenen Fenster, und die Frösche aus dem Mühlteich unterhalb des Grundstückes stimmten ihr abendliches Gequake an. Hatch griff nach einem kleinen Notizbuch, schlug es auf und schrieb »Pirat A« auf die linke und »Pirat B« auf die rechte Hälfte der ersten Seite. Gleich darauf strich er die Bezeichnungen aber wieder aus, um sie durch »Blackbeard« und »Kapitän Kidd« zu ersetzen. Das machte die Skelette irgendwie menschlicher. Unter diesen Überschriften begann Hatch nun seine Beobachtungen zu notieren.
Zuerst einmal stellte er das Geschlecht der beiden Skelette fest, denn er wußte, daß es im siebzehnten Jahrhundert mehr weibliche Piraten gegeben hatte, als man landläufig annahm. Diese beiden waren allerdings männlich und darüber hinaus so gut wie zahnlos -ein Schicksal, das sie mit fast allen Skeletten in dem Massengrab teilten. Hatch nahm einen der Unterkieferknochen und betrachtete ihn unter der Lupe. Entlang des Mandibularbogens entdeckte er kleinere Knochenveränderungen, die wohl von Zahnfleischerkrankungen herrührten, und Stellen, an denen
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