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Riptide - Mörderische Flut

Riptide - Mörderische Flut

Titel: Riptide - Mörderische Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lincoln Douglas & Child Preston , Lincoln Child
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der Knochen geradezu angefressen war. Die wenigen noch vorhandenen Zähne sahen schlimm aus -die Odontoblastschicht hatte sich fast vollständig vom Dentin gelöst. Hatch legte den Unterkiefer wieder zurück auf den Tisch und fragte sich, ob der Grund für den schlechten Zustand von Knochen und Zähnen Krankheit, Hunger oder ganz einfach mangelnde Mundhygiene gewesen war.
    Er nahm den Schädel des Piraten, den er Blackbeard genannt hatte, in die Hände wie Hamlet den von Yorick und betrachtete ihn eingehend. Blackbeards letzter noch vorhandener oberer Schneidezahn war erkennbar schaufeiförmig, was auf eine entweder ostasiatische oder indianische Herkunft schließen ließ. Dann legte Hatch den Schädel wieder hin und fuhr mit seiner Untersuchung fort. Kidd, der andere Pirat, hatte einen Beinbruch erlitten, der nicht besonders gut verheilt war: Der Knochen an der Bruchstelle war abgeschürft und kalzifiziert, und die beiden Enden waren nicht sauber zusammengewachsen. Möglicherweise hatte Kidd nur hinkend und unter großen Schmerzen gehen können. Wahrscheinlich war dem Piraten nicht besonders wohl zumute gewesen, denn auch am Schlüsselbein fand Hatch eine alte Wunde, einen tiefen Einschnitt im Knochen mit Ausläufern an beiden Stellen. Ob der wohl vom Hieb eines Entermessers herrührt? fragte sich Hatch.
    Die beiden Piraten schienen nicht älter als vierzig geworden zu sein. Im Gegensatz zu Blackbeard war Kidd möglicherweise ein Weißer europäischer Herkunft gewesen. Hatch nahm sich vor, St. John bei nächster Gelegenheit nach der ethnischen Zusammensetzung von Ockhams Mannschaft zu fragen.
    Hatch ging nachdenklich um den Tisch herum, bis er schließlich einen Oberschenkelknochen zur Hand nahm. Er kam ihm merkwürdig leicht und brüchig vor, und als er ihn ein wenig bog, zerbrach er zu seinem Erstaunen wie ein trockener Zweig. Hatch betrachtete sich die Bruchenden. Es handelte sich hier um einen schweren Fall von Osteoporose, Knochenschwund, nicht etwa um eine nachträgliche Zersetzung des Knochens im Grab. Daraufhin sah er sich auch das andere Skelett genauer an und entdeckte dieselben Symptome.
    Weil die Piraten viel zu jung für eine geriatrisch bedingte Erkrankung waren, ging auch sie vermutlich auf schlechte Ernährung oder andere Mangelerscheinungen zurück. Hatch kramte sein diagnostisches Wissen zusammen und überlegte sich mehrere mögliche Szenarien, bis er plötzlich grinste.
    Er trat an das Regal, in dem er seine medizinische Fachliteratur verstaut hatte, und zog ein abgegriffenes Exemplar von Harrisons »Grundlagen der inneren Medizin« heraus. Er sah im Index nach und blätterte dann rasch auf die dort angegebene Seite. »Skorbut«, stand dort, »Scorbutus (Vitamin-C-Mangel).« Hier waren sie genau beschrieben, die Symptome, die Hatch an den beiden Skeletten entdeckt hatte: Zahnausfall, Osteoporose, Stillstand des Heilungsprozesses, ja sogar das Wiederaufplatzen alter Wunden.
    Hatch klappte das Buch zu und stellte es zurück ins Regal. Das Rätsel war gelöst. Heutzutage kam Skorbut nur noch selten vor. Selbst die ärmsten Entwicklungsländer konnten ihre Bevölkerung mit frischen Früchten und Gemüse versorgen, und so war Hatch trotz seiner jahrelangen Arbeit in der Dritten Welt nicht ein einziger Fall dieser Krankheit untergekommen. Bis jetzt. Hatch war außergewöhnlich zufrieden mit sich.
    Während er noch nachdenklich die beiden Skelette betrachtete, läutete es an der Tür. Verdammt, dachte Hatch und schlug hastig die grüne Plane über die Knochen, bevor er aufmachen ging. Es zählte zu den eher lästigen Aspekten des Kleinstadtlebens, daß es niemand für nötig fand, seinen Besuch telefonisch anzukündigen. In Stormhaven, dessen war Hatch sich klar, schickte es sich jedenfalls bestimmt nicht, Skelette anstatt des Tafelsilbers auf dem Eßtisch auszulegen.
    Hatch warf einen Blick aus dem Fenster und erkannte zu seinem Erstaunen Professor Orville Horn, der auf seinen Stock gestützt vor der Eingangstür wartete. Seine weißen Haare standen, ihm vom Kopf ab, als habe man sie mit einem Van-deGraaf-Generator aufgeladen.
    »Ah, der schreckliche Dr. Hatch!« sagte der Professor gutgelaunt, als Malin ihm die Tür öffnete. »Ich bin gerade hier vorbeigekommen und habe in deinem alten Mausoleum hier noch Licht gesehen.« Während er sprach, wanderten seine kleinen Augen rastlos hin und her. »Ich dachte, daß du vielleicht gerade unten im Kerker Leichen zerschneidest. In jüngster Zeit werden

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