Riskante Enthüllung (German Edition)
seine Ratlosigkeit, obwohl er mit dem Mundschutz wie ein erfahrener Chirurg aussah, der genau wusste, wo der Tumor saß. Wir gingen langsam weiter und ich untersuchte die Wände nach Schriftze i chen. Sie waren kahl und kühl und verrieten nichts über die Erei g nisse, die sich in den vergangenen Jahrtausenden hier abgespielt hatten. Ein Luftzug streifte meinen Nacken und meine feinen Hä r chen stellten sich auf, als wenn die Vergangenheit noch immer präsent war, nur auf einer and e ren Ebene und für unsere Sinne nicht greifbar.
Nichts erinnerte an das aktuelle Kalenderdatum, wir hätten uns ebenso gut im Jahr dreitausend vor Christi befinden können. Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft schienen in diesen Felswä n den egalisiert, ihrer Wichtigkeit beraubt. Selbst in zwanzigtausend Jahren würde dieser Gang noch existieren, auch wenn die Mensc h heit sich bis dahin vielleicht selbst aus der Geschichte gestrichen hatte.
Warum konnten diese Wände nicht sprechen? Es müsste eine M a schine geben, mit der man die Schwingungen der Vergangenheit au f nehmen und messen könnte, denn es schien als seien sie noch da, fast berührbar, fast hörbar, wenn man es nur schaffen könnte , seine eigenen Gedanken aus dem Bewusstsein zu verdrängen und genau hi n zuhören.
Ich blieb stehen und lauschte, doch der immer währende Dialog meiner Gedanken war nicht zu stoppen, war zu vordergründig. Le i der beherrschte ich nicht die Praxis der ZEN-Meditation, die lehrt, wie man bewusst alle Gedanken vertreiben und zu vol l kommener innerer Stille kommen kann. Ich verwarf die Idee und widmete mich der einzigen Methode die ich perfekt beherrschte, nämlich Schlüsse zu ziehen aus den materiell greifbaren Eindr ü cken dieser Welt.
Ich vermisste Nischen in denen die Benutzer Lampen hätten unterbringen können und untersuchte die Decke nach Rußspuren bre n nender Fackeln. Es waren keine zu sehen. Auch hier tauchte die Frage auf: Wie hatten sie den langen Gang beleuchtet? Verfü g ten sie über eine alternative Energiequelle? So etwas in James’ G e genwart auszusprechen wagte ich nicht. Nicht in diesem M o ment. Ich senkte den Strahl meiner Lampe.
„Was ist denn das?“, fragte ich mit einer mulmigen Vorahnung, als ich im Lichtkegel weiter vorne etwas auf dem Boden des Tu n nels liegen sah.
Wir traten näher und blickten sprachlos auf die Überreste eines Menschen, den die trockene Luft in eine zusammengeschrumpfte Mumie verwandelt hatte. Also handelte es sich in gewissem Sinne doch um ein Grab. Die Kleidung b e stand aus grobem Material und war keinem Menschen dieses Jahrhunderts z u zuordnen. James ging in die Hocke und leuchtete von oben nach unten über das, was einst ein warmer, durchbluteter Körper gewesen war. Am Kopf verweilte er etwas länger. Lange, dunkle Haare umfächerten erstaunlich gut erha l ten den Hinterkopf. Ich wollte wissen was James entdeckt hatte, denn er nickte plötzlich.
„Keine sichtbaren Schimmelpilze“, sagte er, nahm den Mun d schutz ab und verstaute ihn in seiner Hosentasche. „Ich hasse diese Dinger“, fügte er hinzu als er meine erstaunten Augen sah. „Und noch eine Kleinigkeit, dieser Mann wurde ermordet.“
Ich zuckte zusammen. Irrealer Weise kam mir die Fernsehserie Raumschiff Enterprise mit dem Arzt Pille wieder in den Sinn, und ich hätte beinahe ausg e sprochen was er an solchen Stellen profund zu sagen pflegte: Er ist tot, Jim.
„Woran erkennen Sie das?“, fragte ich stattdessen.
„Die Axt in seiner Schädeldecke ist ein recht vielversprechender Hinweis.“
James leuchtete mit der Lampe auf die betreffende Stelle. Ich b e trachtete das bedauernswerte Opfer genauer.
„Allerdings. Das macht die Sache natürlich weniger kompliziert.“
Ich nahm meinen Mundschutz ab, denn der Körper war völlig trocken und die gefährlichen Pilze haben eine grünliche Einfä r bung und sind gut zu erkennen. Wir grinsten uns an, doch plöt z lich kam ich mir pietätlos vor, obwohl bei mir der Anblick einer mumifizierten Leiche eher wissenschaftliches Interesse auslöste als Mitgefühl für den Ve r storbenen. Doch bisher hatte ich noch kein Mordopfer vor mir g e habt. Was war hier passiert? Wovor war dieser Mann geflüchtet als man ihn so brutal niederstreckte? Immer die Frage der Beleuc h tung verfolgend - vielleicht würde ich irgendwann auf einen Hinweis st o ßen - fiel mir auf, dass er keine Fackel oder Öllampe bei sich hatte. Aber die hätte der Mörder ebenso gut mitgenommen haben
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