Riskante Liebe
und dessen Fleisch über dem Feuer zu rösten, sah er mir aufmerksam zu.
»Du bist sehr geschickt darin , Waldfee.« Er lachte. »Nur wenige Frauen bei uns brächten es fertig, ein Tier überhaupt zu töten, geschweige denn, es so zuzubereiten. Bei uns gibt es Essen im Überfluss und können uns jederzeit etwas besorgen, auf das wir Hunger haben.«
Auf meine Fragen hin erfuhr ich dann während unseres Mahles endlich etwas über seine Herkunft. Er erzählte mir von San Francisco, einem Dorf oder wie er sagte, einer Stadt am Meer. Das Meer, so erklärte er mir auf meinen verständnislosen Blick, wäre eine riesige Wasserfläche, viel größer als ein See. Sie besaßen Häuser – große Hütten, stellte ich mir vor – aus Stein, die man durch Strom, irgendeine Art Energie, entweder wärmen oder kühlen konnte. Feuerstellen gab es nicht. Wieder konnte ich vieles von dem, was er sagte, nicht ansatzweise nachvollziehen. Warum musste man Häuser kühlen? Sie mussten sich Wasser nicht vom Fluss oder einer Quelle holen, sondern es wurde auf geheimnisvolle Weise direkt in die Häuser gebracht. Er erzählte von „Autos“, mit denen man viel schneller als zu Fuß von einem zum anderen Ort gelangen konnte. Er sprach von Energie, die sie aus der Sonne bezogen, aber vieles von dem, was er mir schilderte, war mir so fremd, dass ich es mir nicht vorstellen konnte. Also wollte ich mehr von den Menschen dort erfahren, wie sie lebten, arbeiteten und wohnten. Aber auch diese Beschreibungen verwirrten mich. Sie arbeiteten auch dort, bekamen jedoch „Geld“ für das, was sie taten, um sich davon Essen und Kleidung kaufen zu können. Männer und Frauen lebten gleichberechtigt miteinander, bildeten Paare und bekamen ein Kind oder auch mehr, die bei ihnen aufwuchsen. Erstaunt und begeistert hörte ich, dass die Kinder, wenn sie ihrerseits ausgewachsen waren und ihre „Eltern“ alt und schwach wurden, diese bei sich aufnahmen und sich um sie kümmerten.
Bei uns galten für die Alten ganz andere Regeln: Jede Frau und auch die Relianten, die bei uns überhaupt ein Al ter erreichten, in welchem einen körperliche Schwäche übermannte und man für sein Essen nicht mehr zu arbeiten vermochte, mussten ins Altenhaus, einer Hütte weitab vom Dorf, ziehen und dort auf ihren Tod warten. Im Haus der Alten war auch die Trennung zwischen den Geschlechtern aufgehoben. Viele zogen es vor, einfach in den Wald hinaus zu gehen, um rasch zu verhungern oder den wilden Tieren zum Opfer zu fallen, wenn die Wächterinnen kamen, um sie abzuholen. Man ließ sie gehen. Für Seratta war nur ausschlaggebend, dass sie die unnützen Fresser schnell genug loswurde. Ihr Gesetz lautete, dass sich jeder seine lebensnotwendige Nahrung durch Arbeit verdienen musste. Wer das nicht mehr konnte, war überflüssig.
Als ich Drakes Schilderungen lauschte, wurde mir immer klarer, wie grausam, menschenverachtend und schrecklich das Leben in unserem Dorf eigentlich war und ich fragte mich, warum sich bisher noch keiner dagegen aufgelehnt hatte.
Aber sie alle kannten es nicht anders, ich bis vor drei Tagen ja auch nicht. Und Seratta war es durch ihre bestimmende, furchteinflößende Art gelungen, uns alle so einzuschüchtern, dass keiner auch nur auf den Gedanken kam, sich offen gegen sie zu stellen. Zudem wurde sie von ihren zahlreichen Wächterinnen unterstützt. Jeder, der auch nur im Ansatz versuchen würde, ihre Anordnungen laut und öffentlich anzuzweifeln, wäre sofort dem Tod geweiht.
»Bei uns wählen Männer und Frauen zusammen diejenigen, von denen sie regiert werden. Und niemand muss Angst vor den Anführern haben «, schloss Drake seine Erzählung. Mittlerweile war es so dunkel geworden, dass man außerhalb dem Schein des Feuers nur mehr undurchdringliche, tiefe Schwärze sah. Er gähnte und erklärte, er ginge schlafen. Auch ich legte mich hin, konnte aber lange nicht einschlafen und träumte schließlich von riesigen, warmen Hütten und Menschen, Alten, Jungen, Männern, Frauen und Kindern, die ständig lachten und freundlich miteinander umgingen. Das schönste an dieser Vorstellung aber war, dass Drake und ich mitten unter ihnen waren …
Das klackernde Geräusch von auf steinigen Boden fallendem Holz und ein unmittelbar darauffolgender, gezischter, ärgerlich klingender Laut rissen mich unsanft aus diesem herrlichen Traum. Erschrocken öffnete ich meine Augenlider. Es war früher Morgen, die ersten Sonnenstrahlen stahlen sich durch das Loch in der
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