Riskante Nächte
versuchte ihr Glück nun in einer anderen Straße. Oder vielleicht hatte die Witwe auch alle Hoffnung aufgegeben und war ins Wasser gegangen, wie so viele andere verzweifelte Frauen vor ihr.
Die Welt war grausam zu Frauen in der Situation dieser Dirne, ging es Louisa durch den Sinn. Ladys, die durch den Tod ihres Gatten in tiefste Armut gestürzt wurden, blieb kaum eine andere Wahl. Einerseits wurden sie von der Gesellschaft verachtet, doch gleichzeitig wurde es ihnen unmöglich gemacht, eine ehrbare Anstellung zu finden.
Ich hatte solches Glück, dachte Louisa bei sich. Wäre nicht Gottes Gnade gewesen …
Traurig und von tiefer Entrüstung erfüllt, wandte sie sich vom Fenster ab, ging zum Schreibtisch und drehte die Flamme der Lampe höher. Sie wusste, sie würde heute Nacht keinen Schlaf mehr finden. Also konnte sie ebenso gut einen weiteren Blick auf die Notizen werfen, die sie sich früher am Abend gemacht hatte.
Sie schlug ihr kleines Notizbuch auf und begann zu lesen, doch schon bald klappte sie das Büchlein wieder zu. Sie konnte sich nicht konzentrieren. Aus irgendeinem Grund kreisten all ihre Gedanken um Anthonys Umarmung und wie er sie fest an seine Brust gedrückt hatte, während er sie küsste.
Als sie sich schließlich wieder ins Bett legte, nahm sie diese Erinnerung mit sich und klammerte sich daran, als wäre es ein Talisman gegen den Albtraum.
7
Der nächste Morgen brach frisch und sonnig an. Louisa kleidete sich in eine dünne Chemise, eine Unterhose und einen einfachen Petticoat. Viele ihrer Landsleute wären von dieser spärlichen Unterwäsche entsetzt gewesen, von dem fehlenden Korsett ganz zu schweigen. Frauen, die mit der Mode gingen, trugen oft bis zu sieben Kilogramm Wäsche unter ihren noch weit schwereren Kleidern. Doch sie und Emma waren beide überzeugte Befürworterinnen der Reformbewegung, die den Ladys empfahl, nicht mehr als drei Kilogramm Unterwäsche am Leib zu tragen. Und was Korsetts anging, so hatte die Bewegung grundsätzlich erklärt, dass sie schädlich für die weibliche Gesundheit seien.
Der Schnitt des dunkelblauen Kleides, das sie auswählte, war bequem und entsprach ganz den Vorstellungen der Reformbewegung. Das Mieder war eng anliegend, nach der neuesten Mode, doch es hatte keine Fischbeinstäbchen und war nur locker geschnürt. Die Tournüre war klein und nur leicht aufgepolstert, um Form zu geben. Der Rockteil bestand aus bedeutend weniger Stoff als die aufwendig drapierten und gerafften Gewänder, die derzeit als chic galten.
Das Weniger an Stoff bei den Röcken war ein entscheidender Faktor: Das geringere Gewicht des Kleides erleichterte das Gehen bedeutend. Die voluminösen Falten vieler hochmodischer Kleider, zusammen mit den viellagigen Petticoats, die darunter getragen wurden, machten Frauen einen erquickenden Spaziergang im Park unmöglich. Sie konnten nur kleine, zierliche Schritte tun. Versuchten sie, zügiger zu laufen, verhedderten sich ihre Beine hoffnungslos in den Röcken.
Louisa nahm das kleine Notizbuch, das auf dem Nachttisch lag, und ging den Flur entlang zur Treppe. Emmas Tür war noch geschlossen, wie sie bemerkte.
In der Küche traf sie auf die Haushälterin, Mrs. Galt, sowie ihren Mann, Hugh, und ihre Nichte, Bess. Hugh, ein vierschrötiger Mann Mitte vierzig, kümmerte sich um den Garten und Emmas heiß geliebten Wintergarten. Bess war Hausmädchen für alles. Die drei nahmen gerade ihren Morgentee, doch als Louisa hereinkam, standen sie eilig auf.
»Guten Morgen«, sagte Louisa. »Ich bin nur kurz für eine Tasse Tee hereingekommen.«
»Guten Morgen, Madam.« Mrs. Galt lächelte. »Sie sind früh auf. Möchten Sie Toast zu Ihrem Tee?«
»Das wäre nett.«
»Ich bringe Ihnen gleich ein Tablett ins Arbeitszimmer.« Mrs. Galt wandte sich zum Herd um und griff nach dem Kessel.
»Ich sehe nach dem Feuer, Mrs. Bryce.« Bess knickste und eilte davon.
»Danke«, sagte Louisa.
Sie schenkte Mr. und Mrs. Galt ein Lächeln und ging den Flur hinab zu ihrem Arbeitszimmer.
Sie war noch nicht weit gekommen, als sie hinter sich Mrs. Galts Stimme leise murmeln hörte.
»Na, das überrascht mich aber, sie so früh schon auf den Beinen zu sehen. Sie ist gestern Nacht spät nach Hause gekommen. Sie kann nicht viel Schlaf bekommen haben, so viel steht mal fest.«
»Schlaf ist noch das geringste Problem, wenn du mich fragst«, erwiderte Mr. Galt. »Aber dass sie in der Kutsche eines Gentleman nach Hause gekommen ist, da muss man sich
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