Riskante Nächte
kleine Einstiegstreppchen herunter. Louisa zog den Schleier wieder vor das Gesicht und ließ sich von Anthony aus der Kutsche helfen.
»Warten Sie bitte auf uns«, wies Anthony den Kutscher an.
»Soll sein, Sir.« Der Mann machte es sich auf dem Bock bequem und holte einen Flachmann aus seiner Manteltasche. »Ich bin hier, wenn Sie wieder wegfahren wollen.«
Louisa ging mit Anthony durch die wallenden Nebelschwaden zur Haustür von Thurlows Unterkunft.
Anthony klopfte laut. Es kam keine Antwort.
»Das ist seltsam«, bemerkte Louisa. »Mr. Thurlow kann natürlich außer Haus sein, aber man sollte doch denken, dass es eine Haushälterin gibt.«
Anthony studierte nachdenklich die Fenster mit den schweren, geschlossenen Vorhängen. »Wenn es eine Haushälterin gibt, dann ist sie vielleicht zum Einkaufen gegangen.«
Etwas an seinem Ton ließ sie aufmerken. »Was überlegen Sie, Sir?«
»Dass wir offensichtlich ein andermal wiederkommen müssen.« Er fasste sie am Ellbogen und dirigierte sie auf die wartende Droschke zu. »Kommen Sie, Mrs. Bryce. Ich bringe Sie nach Hause.«
»Ha!« Sie blieb abrupt stehen und zwang auch ihn anzuhalten. »Sie glauben doch wohl nicht, Sie könnten mich so leicht hinters Licht führen, Sir. Sie wollen mich nur schnell aus dem Weg haben, damit Sie allein in die Halsey Street zurückkehren können. Sie wollen in Mr. Thurlows Wohnung einbrechen und sich dort umschauen, nicht wahr?«
»Es verletzt mich zutiefst, dass Sie so wenig Vertrauen in mich haben, Mrs. Bryce.«
»Ich werde weit mehr tun, als Sie nur verletzen, wenn Sie versuchen, mich loszuwerden.«
»Wenn Sie denken, ich werde zulassen, dass Sie mit mir gemeinsam in Thurlows Wohnung einsteigen, müssen Sie verrückt sein. Ich will nicht dafür verantwortlich sein, dass Sie wegen Einbruchs festgenommen werden.«
Sie schaute sich demonstrativ in der verlassenen Gasse um. »Ich kann nirgends auch nur eine Spur von einem Constable entdecken. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass wir festgenommen werden, wenn wir vorsichtig sind. Niemand wird es verdächtig finden, wenn wir durch die Haustür eintreten. Falls uns tatsächlich jemand sieht, wird er schlicht annehmen, der Bewohner hätte uns eingelassen.«
»Die Haustür ist sehr wahrscheinlich abgeschlossen, Mrs. Bryce.«
»Ich bin sicher, dass jemand, der einen Apollo Patented Safe knacken kann, keine großen Schwierigkeiten mit einem simplen Türschloss haben dürfte. Ich werde mich vor Sie stellen, während Sie am Werk sind. Meine Röcke geben Ihnen Deckung.«
»Und wenn uns jemand fragt, was wir im Haus machen?«, wollte er wissen.
»Dann behaupten wir, Freunde von Mr. Thurlow zu sein, die Anlass hatten, sich um seine Gesundheit zu sorgen.«
»Hm.« Er ließ sich Louisas Worte kurz durch den Kopf gehen. »Nicht übel. Wirklich nicht übel.«
»Wir sind ins Haus gegangen, um uns zu vergewissern, dass er nicht krank ist«, fuhr sie munter fort. »Wer kann uns das widerlegen?«
»Thurlow selbst vielleicht, falls er uns dabei überraschen sollte, wie wir seine Wohnung durchsuchen?«
»Er wird kaum einen Constable rufen, sobald wir ihm erklärt haben, dass wir von seiner Beteiligung an einem Erpressergeschäft wissen.«
Anthonys Lippen verzogen sich zu einem wölfischen Grinsen. »Mrs. Bryce, große Geister denken gleich, wie es so schön heißt.«
»Ja, so könnte man es ausdrücken, Sir.« Sie spürte, wie ihre Erregung wuchs. »Wenn Sie jetzt so gut wären, sich ans Werk zu machen?«
»Das sollte gleich geschafft sein.« Er legte die Hand auf den Türknauf und drehte ihn probehalber. Die Tür sprang auf. »Oder auch schneller.«
Louisa runzelte die Stirn. »Mr. Thurlow muss vergessen haben, abzuschließen, als er das Haus verließ.«
Anthony stieß die Tür ein Stück weiter auf, und ihr Blick fiel in eine leere Diele. Louisa missfiel die drückende Stille im Inneren der Wohnung. Sie fühlte, wie sich ihre Nackenhaare aufrichteten.
Anthony trat vorsichtig in die dämmrige Diele. Er strahlte die wachsame Anspannung eines Raubtiers aus, was Louisa einen weiteren Schauder über den Rücken laufen ließ. Auch er spürte, dass etwas nicht stimmte.
Sie folgte ihm ins Haus, schlug ihren Schleier zurück und schaute sich um.
Thurlows Wohnung war typisch für einen Mann mit bescheidenen Mitteln. Louisa warf einen Blick in die Wohnstube, die klein und spärlich möbliert war. Ein Flur führte zur Küche und zu einer Hintertür, die sich vermutlich auf eine
Weitere Kostenlose Bücher