Riskante Versuchung
wie sie all die Jahre hindurch mit diesem Mann hatte zusammenleben können …
Jess drehte sich um und stellte fest, dass Rob sie mit einem sanften Ausdruck in den Augen beobachtete, als wüsste er genau, was sie gerade dachte und wie schwierig es für sie war, hier zu sein.
„Früher habe ich immer hinter ihm hergeräumt“, erklärte sie schulterzuckend. „Es tut mir leid. Ich habe keine Ahnung, warum er keine Haushaltshilfe einstellt.“
„Vielleicht gefällt es ihm, so zu wohnen“, meinte Rob. „Vielleicht kann er sich dann besser selbst bemitleiden.“
Jess schwieg.
„Außerdem musst du dich nicht für Ian entschuldigen. Du bist nicht mehr für ihn verantwortlich.“ Rob berührte sacht ihre Schulter.
Diese kleine Geste war für Jess enorm tröstlich. Er war bei ihr, und sie bedeutete ihm etwas.
„Aber ich fühle mich nun einmal verantwortlich“, sagte sie. „Allerdings nicht auf die Art, die du vermutlich meinst.“
Rob folgte ihr zurück ins Wohnzimmer und zur Treppe, die in den ersten Stock hinaufführte.
„Wenn Ian tatsächlich der Sarasota-Serienkiller ist …“
Rob winkte ab. „Jess, nur weil dein Exmann ein grober Kerl ist und sich gelegentlich widerlich benimmt, heißt das noch lange nicht, dass er …“
„Aber wenn er der Mörder ist“, schnitt sie ihm das Wort ab und drehte sich zu ihm um. Da sie schon auf der ersten Treppenstufe stand, war sie auf Augenhöhe mit Rob. „Wenn er doch der Mörder ist, tötet er mit jedem Opfer symbolisch mich.“
Robs Augen weiteten sich leicht hinter den Brillengläsern. „Was?“
„Das ist die Theorie“, erklärte Jess und stieg die Treppe weiter hinauf. Auf jeder Stufe hatte Ian Dinge gestapelt, die nach oben gehörten. „Aus irgendeinem Grund, den ich nicht kenne, dreht Ian durch. Besonders stabil war seine Psyche nie, doch jetzt scheint sich ein Schalter in ihm umzulegen. Seine Gefühle für mich, schon immer wirr und kompliziert, so eine Art Hassliebe, geraten völlig außer Kontrolle.“
Oben gab es einen kleinen Flur, von dem drei Türen abgingen. Jess öffnete eine Tür und fand das Badezimmer. Es sah aus, als wäre es noch nie geputzt worden, seit Ian diese Wohnung bezogen hatte. Abgesehen davon fand sich leider auch hier kein Beweisstück.
„Ian dreht also durch“, fuhr Jess fort. „Er wird vollkommen besessen, taucht bei allen meinen Auftritten auf, steht zu jeder Tages- und Nachtzeit vor meiner Tür, ruft an, schreibt, folgt mir, wenn ich einkaufe …“
„Macht er das wirklich?“, unterbrach Rob ihre Aufzählung.
„Manchmal“, schränkte Jess ein. Die zweite Tür führte in Ians Musikstudio, das einen scharfen Kontrast bot zum Rest der Wohnung, denn dieser Raum war blitzsauber. Ians Geige lag im offenen Koffer neben dem Notenständer. An der einen Wand stand ein Computer, der an ein Keyboard-Rack mit verschiedenen Synthesizern angeschlossen war.
Die Synthesizer waren mit einem Zwölfspur-Mischpult verbunden, das bei Jess Neid weckte. Ian besaß außerdem ein Rack mit Kompressoren, Effekten und Equalizern, die fast komplett eine weitere Wand einnahmen.
Während ihrer Ehe hatte Ian all diese Sachen noch nicht besessen. Jess war klar, dass er den Unterhalt für sein Kind in dieses Studio investiert hatte.
„Es ist ein großer Unterschied, ob man seiner Exfrau hinterherläuft oder Frauen umbringt, die ihr ähnlich sehen“, gab Rob zu bedenken.
„Ich behaupte auch nicht, es zu verstehen.“ Jess strich sacht mit dem Finger über das glänzende Holz der Violine. „Oder dass es sich bis jetzt um mehr als eine komplexe Theorie handelt.“
„Woher weißt du überhaupt so viel darüber?“, wollte Rob wissen.
Er beobachtete sie erneut, und Jess wich seinem fragenden Blick aus. Sie betrachtete die dekorativen Klanglöcher der Violine und dachte nach. Was sollte sie Rob sagen? Dass sie sich sehr lange mit einer FBI-Psychologin unterhalten hatte, die ihn für den Serienmörder hielt? Wow, das würde bestimmt gut ankommen. Oder …
Moment mal.
Jess betrachtete die Verzierungen an der Violine genauer.
Ians Violine.
Warum lag sein Instrument hier in seiner Wohnung, wenn er doch eigentlich zur Probe in der Symphony Hall war?
Es sei denn …
Jess schaute auf die Uhr. Viertel vor sechs.
Es sei denn, er war noch gar nicht in die Stadt gefahren. In diesem Fall würde er jeden Augenblick wieder hier sein, um seine Geige zu holen.
Rob hörte das Geräusch im gleichen Moment wie Jess.
Es war nicht sehr laut, aber
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