Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
Gesellschaft ohne Geld, ja. Aber es ist auch eine Gesellschaft ohne Zeitungen.
– Nun, das ist doch nicht so verwunderlich. Wir haben keine Kriege mehr, keine Streiks, keine Schlägereien und Mordfälle, keine Firmenschließungen, von denen man berichten könnte. Wozu bräuchten wir dann die Zeitungen? Zu philosophischen Diskussionen? Aber wir haben ja keine philosophischen Probleme. Philosophische Probleme kann es ja nur dann geben, wenn die Leute etwas haben, das sie beunruhigt, aber was sollte sie hier schon beunruhigen?
– Daß sie sich so langweilen.
– Glaube mir, liebe Freundin, ich will wirklich nicht naseweis sein, aber glaube mir: Du bist keineswegs typisch für die Menschen im allgemeinen. Du bist eine typische unruhige europäische Intellektuelle. Du fühlst dich unwohl, wenn du nichts hast, worüber du dir Sorgen machen kannst. Wenn es beim Frühstück nichts über eine neue Militärjunta in Chile zu lesen gibt, gegen die du abends auf dem Kurfürstendamm demonstrieren kannst, kriegst du ganz einfach eine schlechte Verdauung. Wenn du das Dasein nicht als einen Kampf mit undurchdringlichen Rätseln empfinden kannst, findest du nicht die richtige Lasur für dein letztes Bild.
Das ist ja alles schön und gut, aber du mußt einsehen, daß du nicht von dir auf alle anderen Menschen schließen kannst. Was die Leute im allgemeinen haben wollen, ist ganz einfach Ruhe. Frieden und Ruhe. Vier, fünf Arbeitsstunden pro Tag, nicht allzufrüh aufstehen müssen und abends etwas Bier und Pfeilwerfen. Kein Fernsehen, keine brutalen Filme, keine Massenbombardements auf arme Länder, die man in den Abendnachrichten konsumieren könnte, keine halbjährliche Erhöhung der Benzinpreise. Nur ein wenig Frieden und Ruhe. Wir führen hier ein gesundes Leben, mußt du wissen. Gesünder, als es das Leben in Berlin oder in der gesamten Bundesrepublik je sein könnte.
– Soviel kann ich sagen, sagte die Malerin G., und jetzt klang ihre Stimme schon ziemlich überzeugt, ich für mein Teil werde mich hier nie wohl fühlen können. Ich würde verrückt werden, das ist die einfache Wahrheit.
Belo schwieg. Er hatte jetzt aufgehört, mit seiner Fußspitze auf diese alberne Art auf und ab zu wippen, und das war wirklich eine Erleichterung, denn er machte es auf eine sehr irritierende Weise.
Er betrachtete sie aufmerksam, ohne Aggressivität oder Freundlichkeit. Ihr wurde bewußt, daß noch niemand sie je so betrachtet hatte, es war eher der neutrale Blick einer Eidechse oder einer Schildkröte, die sich hinter der Glaswand eines Terrariums befindet und die Zuschauer draußen züngelnd betrachtet, als der Blick eines intelligenten Geschöpfs.
Mit einem leichten Schauder wurde ihr bewußt, daß dieser Herr von einer so tiefen Müdigkeit befallen sein mußte wie kein anderes Wesen, das ihr je begegnet war. Die Sympathie, die sie anfangs für ihn empfunden hatte, verflog allmählich. Sie begriff plötzlich, daß sie für Belo nicht mehr und nicht weniger interessant war, als es ein lustig gesprenkelter Stein auf dem Weg oder eine bizarr geformte Astgabelung für jemand sein können, der gerade auf einem Spaziergang unterwegs ist.
Sein wohlwollendes Interesse war lediglich ein gespieltes, das routiniert und geschickt gespielte Interesse eines gewieften alten Diplomaten, der schon seit langer Zeit gelernt hat, wie man Menschen beeindruckt und gerade genug Kontakt mit ihnen hält, um sie dahin zu bringen, wo man sie hinkriegen will.
Das ärgerte sie um so mehr, als ihr völlig klar war, daß er sie im Grunde ungeheuer faszinierte.
Sie spürte, daß sie sehr böse werden würde, wenn dieses Gespräch nicht bald zu einem Ende käme, furchtbar böse, es würde eine Szene geben, eine ihrer großen, das wußte sie.
– Es tut mir leid, daß dieses Experiment so schrecklich fehlgeschlagen ist, sagte Belo. So ganz und gar fehlgeschlagen.
Und in diesem Moment sah er natürlich aufrichtig traurig drein.
– Politisch oder wirtschaftlich spielt es ja wohl keine größere Rolle, selbst wenn wir es uns nicht leisten können, beliebig viele Chancen der Verpflichtung großer Begabungen zu verpassen. Etwas anderes macht mich trauriger, und zwar, daß wir keine Gelegenheit mehr haben werden, uns zu sehen. All unsere interessanten Gespräche haben mir soviel Vergnügen gemacht.
Soso, du alter Schuft, dachte die Malerin G. Sie war in Moabit aufgewachsen und wußte schon seit dem Volksschulalter darüber Bescheid, wie ältere Onkels sein können.
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