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Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Titel: Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lars Gustafsson
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kreischenden Reifen. Als die Ampel auf Rot springt, hört man ihn besser. Er spielt, wenn ich mich nicht sehr täusche, eine Chaconne von François Couperin dem Großen. Der feine, kastanienduftende Regen wird ein wenig stärker.
    Eine der wenigen alten deutschen Damen von Kreuzberg, weißhaarig, mit sehr geradem Rücken, eine verkniffene Majorswitwe, überquert den Zebrastreifen.
    Der Flötenspieler kneift sie neckisch in die Wade.
    Es muß das erste Mal seit mindestens vierzig Jahren sein, daß jemand sie neckisch in die Wade kneift.
    Ihr Mienenspiel, als sie ihm mit dem Regenschirm droht, ist unbeschreiblich.
    Wie geheimnisvoll kreuzt nicht Eros den Weg aller Prozessionen von der Seite.
    Die Dame sagt aber irgendwas wie: Man sollte eigentlich die Polizei holen.
    Dieser Flötenspieler ist der Zauberer von Kreuzberg.
    Ich nenne ihn so, weil auf einem Fest mal jemand allen Ernstes behauptet hat, jeder Stadtteil von Berlin habe seinen eigenen Zauberer.
    Der Zauberer von Dahlem ist ein feiner alter Herr mit professoralem Aussehen, der in den U-Bahnwagen herumgeht und höflich ein Pamphlet verteilt, in dem geschrieben steht, daß die Atome im Universum sich rasch von innen her auflösen und daß das zu einer Katastrophe führen wird.
    Der Zauberer von Moabit ist ein fröhlicher Harlekin mit Schellen an seiner Mütze, der auf dem Bürgersteig vor der Schultheissbrauerei in der Turmstraße zu tanzen pflegt. Mit flatterndem schwarzem Mantel wirft sich der Zauberer von Lichterfelde in Vollmondnächten den Hügel hinunter, auf dem Otto Lilienthal seine Drachen erprobte. Aber der Drachen des Zauberers stürzt nicht ab, er segelt davon und verschwindet als Punkt vor der Scheibe des Mondes.
    Der Zauberer von Kreuzberg fliegt nicht. Er spielt auf seiner Flöte. Jetzt hat er sich auf dem Rasen eines Parks niedergelassen und spielt dort für einen Kreis von kleinen Kindern, die um ihn herumstehen und sich rasch in zwei Parteien gespalten haben.
    Die eine Partei liebt ihn, mit weit geöffneten Augen und Mündern. Die andere Partei haßt ihn.
    »Du Doofer«, sagt ein kleines Zigeunermädchen und sieht ihn mit ganz schwarzen, haßerfüllten Augen an. Und jetzt, als es aufhört zu regnen, hört man wieder das Vogelgezwitscher.
    An einigen Berliner Straßenecken gibt es sonderbare Apparate, die aussehen wie mißgestaltete Briefkästen mit einer blauen Lampe obendrauf. Sie sind dazu da, daß man auf den Knopf drückt, wenn man von einem Räuber überfallen wird oder wenn ein Verkehrsunfall passiert, oder weiß der Himmel was. Dann beginnt das Blaulicht dort oben zu rotieren und zu blinken, und eine metallische Stimme vom Polizeirevier fragt durch den Lautsprecher, was los sei, und dann soll man berichten, daß man gerade ermordet wird oder etwas Ähnliches, und daraufhin soll ein Streifenwagen zu dem Platz kommen und sich an dem blinkenden Blaulicht orientieren.
    Nun steht der Flötenspieler auf, geht mit federnden Faunschritten zu solch einem Blinkapparat und drückt munter auf den Knopf. Das Blaulicht beginnt zu kreisen und zu blinken, die Leute bleiben stehen und bilden einen kleinen Kreis um ihn.
    Wie ich schon erzählt habe, ist die Luft voller Vogelgezwitscher. Amseln, Drosseln, sogar eine Lerche sind von einem Ruinengrundstück in der Nähe zu hören.
    Und jetzt beginnt der Flötenspieler, den Gesang der Vögel zu imitieren. Täuschend echt und so laut, daß es dröhnt, pfeift er alle Triller der Lerchen, Amseln, Drosseln in diesen blöden Apparat.
    Es ist ein ganz unglaubliches Pfeifkonzert.
    Er wiederholt dieses Konzert, noch brillanter, jubelnder, mit noch komplizierteren Läufen und Kadenzen als zuvor. Dann nimmt er die Flöte, spielt eine fröhliche kleine Melodie und flüstert ironisch und glücklich in den Apparat, der noch immer vor lauter Staunen den Schluckauf zu haben scheint:
     
    KEINE LEICHE IN DIESER ECKE
     
    KEINE LEICHE IN DIESER ECKE
     
    Es ist ein sehr hübscher Moment, und alle, die um ihn herumstehen, brechen in Beifall aus.
    Genau in diesem Augenblick wird mir bewußt, daß ich schon seit einer Weile einen jungen Mann angeschaut habe, der im Kreis mir gegenübersteht, und daß wird uns ganz gedankenverloren gegrüßt haben.
    Erst als dieser junge Mann, mager, dunkelhaarig, mit großen, klugen, etwas ironischen Augen, wieder im Gewühl verschwunden ist, fällt mir etwas ein, das mich meinen Verstand fester in den Griff nehmen läßt, während ich meine Schläfen hart mit den Fingerknöcheln massiere.
    Der

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