Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
Jetzt war sie so wütend, daß sie beschloß, nicht mehr die geringste Spur ihres Zorns zu zeigen.
Irgend etwas, vielleicht eine unmerkliche Veränderung in seiner Haltung, ließ die Malerin G. verstehen, daß Belo das Gespräch mehr oder weniger als beendet betrachtete. Sie fing gerade an, sich über die Heimreise Sorgen zu machen – würde er überhaupt die geringste Anstrengung unternehmen, damit sie je wieder heimkäme? –, als er sagte:
– Offenbar findest du, daß du genug gesehen hast. Das ist schade, in mancherlei Hinsicht. Es gibt noch soviel Interessantes hier, was ich dir gern gezeigt hätte. Landschaften, die ganz anders aussehen, richtig extreme Landschaften. Aber ich sehe ein, daß es nicht sehr viel nützen würde. In letzter Zeit habe ich mich gefragt, ob du nicht eigentlich eher eine Porträtmalerin als eine Landschaftsmalerin bist.
– In gewisser Weise, ja, sagte sie.
– Menschen interessieren dich mehr als die Natur, nicht wahr?
– Ja.
– Eine Sache hat mich sehr interessiert, und ich würde dich gern danach fragen, wenn es nicht zu aufdringlich wirkt, nachdem unsere Verhandlungen jetzt praktisch abgeschlossen und anscheinend gescheitert sind. Darf ich dich etwas fragen?
– Was denn?
– Du hast in Berlin gesagt, du wolltest eine ganz spezielle Vertragsklausel haben?
– Ja.
– Und sie sollte besagen, daß du einen einzigen Tag und eine einzige Nacht lang ein anderer Mensch sein kannst. War es nicht so?
– Ja.
– Weißt du, das ist ein sehr ungewöhnlicher Wunsch, viel ungewöhnlicher, als du glaubst.
– Tatsächlich?
– Es ist wirklich so, daß ich im Laufe meiner langen Erfahrung noch nie auf einen Menschen gestoßen bin, der etwas so Sonderbares gewollt hat. Nicht einmal Gefolterte, die sich in den schlimmsten Schmerzen winden und jeden Augenblick das Ende herbeiwünschen, wollen etwas so Seltsames.
– Aber ich will es.
– Warum eigentlich?
– Weil ich glaube, daß es mir einen Schlüssel zur ganzen Geschichte, fast zur ganzen Schöpfung geben würde.
– Wie meinst du das?
(Belo wirkte jetzt ernsthaft interessiert. Es schien wirklich so, als sei es ihr ausnahmsweise gelungen, auf einen Gedanken zu kommen, den er noch nie gedacht hatte.)
– Aber das ist doch ganz klar. Das ganze Leben lang sieht man die Welt durch ein einziges Schlüsselloch, aus einer einzigen Perspektive: seiner eigenen. Angenommen, man könnte sie vertauschen! Dann würde man natürlich entdecken, daß einige Dinge, die man immer für selbstverständliche Eigenschaften der Wirklichkeit gehalten hat, nichts anderes waren als kleine Schrullen des eigenen Gehirns, daß diese sonderbare kleine Angst, die man manchmal empfindet, ohne sich ihre Herkunft erklären zu können, tatsächlich keineswegs eine individuelle Eigenschaft ist, sondern eine Eigenschaft der Wirklichkeit, eine Art dumpfer, brummender Orgelton, den alle Geschöpfe im tiefsten Inneren empfinden, der leise Ton der Angst, der dem Universum eigen ist. Nach diesem Tag würde man sich ja frei fühlen, man würde endlich die Geschichte begreifen, verstehst du das nicht?
Belo sah sie lange nachdenklich an. Tief auf dem Grund seiner unendlich müden, eisblauen Reptilienaugen sah sie einen Funken aufblitzen, den sie nie im Leben dort vermutet hätte, einen kurzen, blitzschnellen Funken von etwas, das durchaus keine Kälte war, keine grenzenlose Müdigkeit, einen Funken von etwas, das sie zugleich erschreckte und glücklich machte.
Denn in diesem kurzen, winzigen Augenblick sah sie, daß sie irgendwo, in einer unendlich fernen Zeit jenseits dieser Zeit, doch einmal miteinander verwandt gewesen waren.
Belo sprang von der Tischkante herunter.
– Du bist doch ein Teufelsmädchen, sagte er kurz.
Der Flötenspieler von Kreuzberg
WAS WILLST DU?
ICH MÖCHTE STERBEN UND DOCH ÜBERLEBEN
ICH MÖCHTE JEMAND ANDERS SEIN UND TROTZDEM DER SEIN, DER ICH BIN
ICH MÖCHTE GELIEBT WERDEN, ABER NICHT UM MEINER VERDIENSTE WILLEN
SONDERN AUS ZUFALL?
ES ERSCHRECKT MICH, WENN NIEMAND MICH LIEBT
ES ERSCHRECKT MICH NOCH MEHR, WENN JEMAND MICH LIEBT
WENN WIDERSPRÜCHLICHKEITEN DIE EXISTENZ VON ETWAS VERHINDERN WÜRDEN
DANN WÜRDE ICH NIEMALS EXISTIEREN GENAU:
WOHER WEISST DU ÜBERHAUPT, DASS DU EXISTIERST?
ICH DENKE, ALSO BIN ICH
BIST DU GANZ SICHER, DASS NICHTS ANDERES AN DEINER STELLE DENKT?
Ihr habt ganz recht. Ich habe die Möglichkeit erwogen, meine Probleme zu lösen, indem ich verrückt werde.
Ha! Einfach, sagt ihr! Als erstes wird folgendes
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