Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
junge Mann, den ich vor einer Sekunde gesehen habe, ist mir völlig unbekannt. Ich habe ihn noch nie zuvor gesehen.
Und trotzdem könnte ich schwören, daß ich ihn gegrüßt habe, weil ich ihn kannte, weil ich ihn sehr gut kenne.
Der junge Mann in der hübschen Lederjacke, mit diesen großen klugen Augen, ist niemand anders als die Malerin G.!
Niemand anders als die Malerin G.
Oder sollte ich mich doch getäuscht haben?
KEINE LEICHE IN DIESER ECKE
II
Sigismund geht wieder um
Die Sache und doch nicht die Sache
Endlos sind die Kartoffeläcker im Fegefeuer, wie ein lehmiges Preußen im November, auf das ein milder Regen herunterprasselt.
Das Eckhaus zwischen Kantstraße und Fasanenstraße: ein bißchen Nuttengegend, Neonlichter, hin und wieder ein verirrter Türke oder Jugoslawe, der sich in der Abenddämmerung zum Pinkeln in den Torweg stellt. Er hat sich etwas zu weit vom Bahnhof Zoo entfernt, der sonst der bergende Mutterschoß ist, das Tor zur Heimat, Versammlungsort und Clubraum, wo die Kameraden sind.
Und neulich abend sah ich zwei Gestalten den Bürgersteig entlangschwanken, die mir so sonderbar vertraut erschienen, der eine etwas größer als der andere, und erst als wir uns unter einer Straßenlampe begegneten, erkannte ich sie mit einem Schlag. Mein Gott! Das waren ja die betrunkenen finnischen Matrosen, ich meine, die beiden betrunkenen finnischen Matrosen, die in einer Winternacht 1970 versuchten, in das Haus in der Hagagatan einzudringen, worauf ich mich von einem ängstlichen Frauenzimmer dazu verleiten ließ, sie wieder rauszuschmeißen. Mein Gott, wie sind die denn bloß hier gelandet?
Der eine winkte mir unbegreiflicherweise mit einem Zettel zu, als wir uns begegneten, und einen Augenblick lang hatte ich fast den Eindruck, es könnte eine Mitteilung für mich sein, aber da er nicht darauf zu bestehen schien, ging ich weiter.
Eine Botschaft für mich, was für eine alberne Idee, von wem sollte sie denn kommen? Sie mußten ziemlich lange unterwegs gewesen sein.
WENN SIE AN MEINER TÜR KLINGELN, MACHE ICH NICHT AUF
Oder: Die Sache und doch nicht die Sache, wie Goethe sagt, wenn er von Symbolen spricht.
Die Küche. Es ist verdammt mühselig, hier sauberzumachen. Frau und Kinder seit zwei Wochen wieder in Schweden; Teller mit erstarrtem Eigelb, Fett, diese Kaffeetasse, in der ein französischer Kritiker vor drei Tagen seine Zigaretten ausdrückte, die ganze schlampige Trostlosigkeit der einsamen Mahlzeiten.
(Es ist nicht unappetitlich, wenn ein Mensch ißt, wohl aber, wenn er allein ißt.)
Brotkrümel auf dem Boden, gebündelte Dagens Nyheter in der Ecke (jetzt ist alles so gekommen, wie es kommen mußte, wie wir es schon in dieser Oktobernacht 1969 haben kommen sehen, als der große Sturm losbrach. Und mein Freund E., der mir an jenem nebligen, naßkalten Abend, an dem Johanna Becker mir mit ihrer sommersprossigen Hand durchs Haar fuhr und ich so lange im Nebel in Tempelhof wartete, bis sie in ihrem verbeulten Volkswagen auftauchte, E. also, der mir damals eine wärmende Tasse Tee gab, als ich in seinem großen warmen Wohnzimmer meinen Schal ablegte, hat neulich einen Brief an den Ministerpräsidenten mit unterschrieben, in dem der Ministerpräsident höflich ersucht wird, nicht mehr ganz so viele Journalisten zu verhaften. Mein Gott, wir wußten ja, daß es so kommen würde, schon als dieser Sturm irgendwann gegen Ende Oktober losbrach: Daß man allmählich anfangen würde, Journalisten zu verhaften.)
und hier ein alter Scientific American , die Septembernummer, zwischen den Seiten mit Butter vollgeschmiert
HERGOTT NOCH MAL, WER SCHMIERT DENN BLOSS BUTTER IN MEINE ZEITUNGEN
mit einem großen populärwissenschaftlichen Artikel über Asymmetrien in der Arithmetik, und in der Anmerkung 23 wird auf einen bahnbrechenden Aufsatz von Herdin ( University of Upsala ), 1956, hingewiesen. Ich möchte nur wissen, ob es derselbe Herdin ist,
und der Fußboden ist voll von Brotkrümeln, die unter den Fußsohlen knistern, picksen, Spuren hinterlassen und im Teppich im Flur hängenbleiben. Und gerade als ich den Schrubber unter den Wasserhahn halte, gurgelt es kurz, und es kommt kein Wasser mehr. Im ganzen Haus abgestellt! Kein Tropfen mehr!
Die Sache und doch nicht die Sache, wie der schlaue Goethe sagt, und Professor Kennedy, der gegenüber auf der Etage wohnt und mir manchmal seinen Staubsauger leiht, ist natürlich nach Tokio gefahren, um über Städteplanung
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