Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
die offenbar die große Liebe meines Lebens war.
Sie gingen beflissen die Gartenwege entlang und schauten sich die Blumenbeete an. (Dieses Haus war damals, im Jahre 1970, ein Ferienhäuschen.)
– Nehmt euch vor den Bienen in acht, sagte ich. Sie haben gerade eine unruhige Zeit. Sie sind ziemlich aggressiv.
Sie lachten nur.
Der Garten ist ja recht klein. Man braucht nicht lange, um ihn zu besichtigen. Sie nahmen sich Zeit.
Sie kamen zurück, kichernd und ein wenig ausgelassen. Sie hatten einander gefunden.
Bienen und Hummeln summten herum, die Kirchglocken läuteten drüben in Väster Våla, es war wie gesagt ein ganz wunderbarer Sommertag.
– Eine Utopie, dachte ich. Eine Utopie ist Wirklichkeit geworden. Ich habe es schon immer vermutet. Nichts hindert uns eigentlich daran, außerhalb der normalen Regeln zu leben. Daß ich das nicht schon längst begriffen habe!
Dann folgte eine ziemlich sonderbare Zeit. Ich glaube, sie hat uns sehr verändert, mich, Ann, aber am meisten von uns allen Margareth.
Ich hatte ja nie begriffen, daß sie eigentlich eine Mutter brauchte.
(Das gelbe Buch II:10)
Jeder kennt wohl aus eigener Erfahrung das unangenehme Gefühl, das man auf Bahnhöfen hat. Man will sich von jemandem verabschieden. Der, von dem man sich verabschieden will, ist schon eingestiegen, aber der Zug fährt einfach nicht ab. Da steht man nun, der eine auf dem Bahnsteig, der andere hinter dem Fenster, und beide versuchen miteinander zu reden, aber plötzlich ist kein einziges Wort mehr zu sagen.
Das hängt natürlich damit zusammen, daß wir nicht mehr empfinden dürfen, was wir wollen. Die Situation schreibt uns ein Gefühl vor. Und wer hat nicht schon mal diese ungeheure Erleichterung empfunden, wenn der Zug endlich abfährt?
Oder auf Begräbnissen? Wenn jemand stirbt, krank wird, wenn es Enttäuschungen gibt, dann werden ganz bestimmte Gefühle von uns erwartet. In jeder Situation außer in den alltäglichsten, neutralsten, wird Druck darauf ausgeübt, wie wir uns zu verhalten haben, wie wir uns zu fühlen haben. Und wenn man ein bißchen genauer hinsieht, entdeckt man nicht selten, daß Romane, Filme und Theaterstücke, die man irgendwann einmal gesehen oder gelesen hat, uns diese Rollen vorschreiben.
Wenn wir in der Wirklichkeit mit ungewöhnlichen Situationen konfrontiert werden (beispielsweise damit, daß eine von uns erwartete Rivalität ausbleibt und sich statt dessen in eine Liebe verwandelt, die uns allein läßt), greifen wir zuerst nach diesen romanhaften Gefühlsschablonen.
Sie geben uns nicht viel Halt. Sie machen uns einsamer als zuvor, und kopfüber stürzen wir in die Wirklichkeit hinaus.
(Das blaue Buch II:5)
Ich habe ziemlich lange gebraucht, in jenem seltsamen Sommer 1970, bis ich dahinterkam, wie Ann mir weggenommen wurde.
(Und ich glaube, damit nahmen sie mir meine letzte Chance, zu einer Selbständigkeit, zu einer Klarheit über mich selbst und meine eigenen Dimensionen zu kommen, für die ich mein ganzes Leben lang bestimmt gewesen war, auf die alles hingedeutet hatte.
Was sie zu verhindern wußten, war ein Durchbruch von Wirklichkeit, von Persönlichkeit.)
Ich stelle mir die Sache so vor:
Die Tatsache, daß ich verheiratet war, löste bei Ann ein ganzes Knäuel von verschiedenen Schuldgefühlen aus. Diese waren unvereinbar mit der Tatsache, daß sie mich ebensosehr liebte wie ich sie. Gleichzeitig war sie durch ihre ganze Erziehung und all ihre Ideale darauf eingestellt, daß Schuldgefühle etwas Schädliches, etwas Verwerfliches seien.
Sie wandelte sie in »Sympathie« für Margareth um. Margareth erkannte ihrerseits sofort ihre Chance, und zusammen verwandelten sie mich in etwas Unverantwortliches, in ein Kind, auf das kein rechter Verlaß war.
Sie führten mich vollkommen hinters Licht, denn diese Triade von verschiedenen mütterlichen und schwesterlichen Beziehungen schuf eine solche Wärme, einen solchen Frieden, wie ich es noch nie erlebt habe, weder früher noch später.
Wie die Wärme in einem Vogelnest.
(Das blaue Buch II:6)
3
Eine Kindheit
Seit die Schmerzen ernstlich begonnen haben, geschieht etwas sehr Sonderbares:
Ganz andere Altersstufen, ganz andere Erinnerungen bekommen jetzt die größte Wichtigkeit für mich.
Ehe, Berufsleben, ach Gott! All das versinkt, als wäre es eine Lappalie, eine kurze Episode, alles, was eben noch die ganze Welt erfüllte und mich in den Nächten manchmal mit Grübeleien wach
Weitere Kostenlose Bücher