Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
wach.
Sie riefen das Gefühl in mir wach, es gebe etwas ungeheuer Wichtiges, was ich bisher stets vernachlässigt hatte. (Eine banale Geschichte, nein, überhaupt nicht banal.) Ich entdeckte in mir etwas, wovon ich nichts gewußt hatte. Und das empfand ich wie einen neuen Anfang, es gab allem einen neuen Sinn.
Ich machte natürlich einen wirklich interessanten Fehler: Ich erzählte Margareth von dieser Geschichte. (Man könnte selbstverständlich sagen, daß es mit der Zeit praktisch unumgänglich war, denn es gab keine besonders plausible Erklärung dafür, daß ich jeden zweiten Abend eine halbe Stunde lang am Telefon saß und leise und ausführlich zwischen langen Pausen mit jemandem redete, der unmöglich zu unseren gewöhnlichen Bekannten zählen konnte.)
Ich hatte alle möglichen Reaktionen erwartet bis auf die, daß sie sich freuen würde. Aber genau das tat sie. Sie war froh und erleichtert, als sei ihr endlich eine allzu große Verantwortung abgenommen worden.
– Lade sie doch einmal hierher ein, sagte sie und meinte damit Ann. Sie würde bestimmt gern wissen, wie es hier oben aussieht. Sie könnte doch irgendwann in diesem Sommer vorbeikommen. Hat sie ein Auto?
Das war natürlich der Anfang vom Ende, obwohl ich es damals nicht begriffen habe.
Ich lud sie für einen Sonntag im Juni ein. Es war ein ungewöhnlicher schöner Junisonntag. Ich holte Ann am Bahnhof ab.
– Der See ist sehr schön, sagte sie. Ich hatte keine Ahnung, daß er so groß ist.
– Ich bin froh, dich wiederzusehen, sagte ich.
– Ich weiß nicht. Ich fühle mich etwas unsicher.
– Warum müssen die Leute sich immer wie in Romanen benehmen, sagte ich.
– Ja, vermutlich hast du ganz recht, sagte sie.
Es war ein sehr eigentümlicher Anblick, diese beiden Frauen zusammen zu sehen, Margareth klein und mager, kühl, Ann mütterlich besorgt und ernst, als sei sie zu einer Patientin gekommen, die sie zu versorgen hatte. Sie wußten nichts voneinander, ich war das einzige, was sie verband.
In den ersten zwei Minuten schienen sie sich ein wenig voreinander zu genieren. Das kann nicht gutgehen, dachte ich. Es wird ein schrecklicher Nachmittag werden, hoffentlich bringen wir ihn rasch hinter uns. Es ist ein wahnsinniges Unternehmen, auf das ich mich da eingelassen habe.
Wie gesagt: Es war ein strahlend schöner Sonntagmorgen im Juni 1970. Um uns herum lag Västmanland. Von einem Waldbrand auf einem der blauen, bewaldeten Bergrücken im Norden wehte ein schwacher, sehr aromatischer Duft von Brandrauch herüber. (Waldbrände haben die Eigenschaft, aus der Nähe einen stechenden, unangenehmen Geruch zu haben und im Abstand von einigen Kilometern einen aromatischen, angenehmen.)
Über den großen See Åmänningen zogen leichte kleine Windböen, die das Wasser kräuselten. Im Nordwesten verrosteten die Fördertürme stillgelegter Zechen; die Erzbergwerke in der Gegend von Norberg rentierten sich nicht mehr, seit die Fracht für das afrikanische Erz billiger geworden war. Im Norden stieg eine rote Rauchwolke von einem Abstich im Stahlwerk von Trummelsberg auf. Vom Kanal und von der ganzen Seenkette im Süden drang das Geräusch von Motorbooten herüber, die auf den vielen Seen hin und her fuhren.
Es war die Jahreszeit, in der die ganze Gegend sich plötzlich belebt und bevölkert. Wer die winterliche Stille erlebt hat, kann nicht glauben, daß es dieselbe Gegend ist. Im Winter ist der nächste Nachbar das ferne, blinkende Licht eines Fensters sechs Kilometer weiter weg, auf der anderen Seite des Sees.
Im Süden der Gürtel von immer feuchteren, immer sumpfigeren Wäldern, die uns von der Talsohle des Mälarsees trennten, die Kirche von Ramnäs mit ihrem eigentümlichen Zwiebelturm, Ramnäs, wohin mein armer, alkoholsüchtiger Onkel Knutte stets zurückzukehren pflegte, wenn er wieder mal versucht hatte, im Gewitterregen durch den Wald zu radeln, um zum Spirituosenladen in Västerås zu kommen, die Ebene, die sich schließlich an dem schwarzen stillen Flüßchen Kolbäcksån nach Sörstafors und Kolbäck hin öffnet, die Gegend, in der meine unglückliche, romantische Tante Clara in einem denkwürdigen Herbst kurz nach dem Zweiten Weltkrieg mit einem alten, blinden, bärtigen Landstreicher herumzog, in den sie sich Hals über Kopf verliebt hatte – sie starb kurz darauf an einer Lungenentzündung, das arme Ding. Wir sind eine sonderbare Familie. Wir machen sonderbare Dinge.
Und da stand ich nun und stellte meiner Frau eine Dame vor,
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