Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
etwas von der Sache zu bemerken, und diskret im Taxi nach Hause gebracht werden muß.
Tante Clara – nein, die ist schon nicht mehr da. Großmutter Emma war nie dabei, gehörte nicht dazu, war nicht einmal eine richtige Großmutter, sondern nur eine Adoptivgroßmutter, und ist gestorben als ich drei Jahre alt war. Ich kenne sie nur vom Hörensagen. (Wie um alles in der Welt bin ich darauf gekommen, an sie zu denken – es geschieht etwas mit meinem Gedächtnis, etwas Seltsames, was ich nicht für möglich gehalten hätte, Dinge beginnen darin aufzutauchen, von denen ich nicht gedacht hätte, daß sie dort sein könnten. Seit einigen Tagen verfolgt mich eine Erinnerung, die aus der Zeit vor meinem dritten Geburtstag stammen muß; ich gehe mit Großmutter Emma, die mich an der Hand hält, unter kolossal hohen, grünen Bäumen auf dem Djäkneberg in Västerås spazieren, Laubschatten flirren in Strudeln, ja wirklich in Strudeln auf der Erde. Und daß dies alles in einer ungeheuer frühen Zeit stattfindet, läßt sich nur daran erkennen, daß die Parkbänke so unglaublich hoch sind.)
EIN ANDERER
Dieser Ausdruck gehört zu den eigentümlichsten, sonderbarsten Arten der schwedischen Sprache, »ich« zu sagen. Es ist Umgangssprache, aber viel interessanter als das Umgangssprachliche ist natürlich das Philosophische daran. ein anderer – das ist ja ein Florettfechter, der im letzten Moment zur Seite springt und den Degen seines Gegners die leere Luft durchbohren läßt, wo eben noch jemand stand.
Ich kann mir keine seltsamere, gespenstischere Sprache vorstellen als eine, in der es möglich ist, von sich selbst zu reden, als wäre man jemand anders.
– » EIN ANDERER« HAT SICH JA MEIST ALLEIN DURCHSCHLAGEN MÜSSEN.
Das bedeutet: Ihr habt ja nicht besonders viel getan, um mir zu helfen, ihr habt eigentlich einen ziemlich großen Anteil an meinen Problemen, es ist gar nicht so sicher, ob sie ohne euch überhaupt entstanden wären. Deshalb seid ihr mir auch eine Menge DANK SCHULDIG.
– JEDER IST SEINES GLÜCKES SCHMIED (wettert Onkel Stig vom anderen Ende des Tisches her).
Das bedeutet: Es ist deine eigene Schuld, daß du ein halber Alkoholiker bist.
UM DAS MASS DES UNGLÜCKS VOLLZUMACHEN
Es ist sonderbar, aber wie oft ich auch in meinen Erinnerungen an all die Gespräche herumkrame, die ich in meiner Kindheit gehört habe, fällt mir kein einziges ein, bei dem nicht alle Gesprächspartner immerzu mehr oder weniger subtile Schuldgefühle gegeneinander ausspielten. Sie bedeuteten für ihren Umgang miteinander etwa dasselbe wie der Ball für das Tennisspiel.
Ohne diese Schuldgefühle wären sie in ihrem Verhältnis zueinander stehengeblieben, starr wie Statuen. Es hätte keine treibende Kraft, keine Motivation mehr gegeben.
Das Schuldgefühl war die gespannte Feder, die Replik das Häkchen, das sie löste.
Diese Schuldgefühle umfaßten ein riesiges, ein wahrhaft kirchenorgelhaftes Register, angefangen mit
GIBST DU MIR BITTE DAS SALZ
im höchsten Register, über
ES WÄRE NETT, WENN DU NOCH EIN BISSCHEN WAS VOM ZUCKER ÜBRIGLASSEN WÜRDEST
irgendwo zwischen der Salzionalstimme und der zweifüßigen Rohrflöte, bis hinunter zu grollenden, tiefen, zweiunddreißigfüßigen Bässen wie
WO ICH DOCH ALLES FÜR DICH GEOPFERT HABE
oder
WENN DU NICHT GEWESEN WÄRST, HÄTTEN WIR UNS SCHON NACH DEM ERSTEN JAHR SCHEIDEN LASSEN
Diese letzteren, extrem tiefen Stimmen wurden natürlich nur eingesetzt, um ganz besondere Effekte zu erzielen. Sozusagen für kirchliche Feiertage.
Was für seltsame Fugen, Toccaten, Ricercari, Passacaglien konnten sie nicht auf dieser sonderbaren Schuldorgel spielen, was für Abgründe an Kleinbauernangst, an infamem Tauschhandel mit schmutziger Wäsche beschworen sie nicht herauf. Ein einziger Lauf über das Manual, und schon hing jemand zappelnd im Netz, wenn sie geendet hatten.
WEISST DU, PAPA HAT MICH VON ALLEN GESCHWISTERN IMMER AM LIEBSTEN GEHABT
WEISST DU, STIG WAR SCHON IMMER MAMAS LIEBLING, ER WAR EIN SO TÜCHTIGER KLEINER JUNGE
Sie hatten kein leichtes Leben hinter sich, auch kein besonders dramatisches und schon gar keine tragischen Schicksale (es war immerhin in den vierziger Jahren, in denen eine ganze Menge echter Tragödien in der Welt ausgelöst wurden; man sollte den Sinn für die Proportionen wahren), aber es war ihnen weiß der Teufel nie etwas zugestoßen, was sie einander nicht irgendwie zur Last legen konnten. Und dadurch erhielten sie eine glänzende
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