Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
hielt. All das wird nur zu einer Episode in einer viel wichtigeren Erzählung, in der die Kindheit bisher das einzig wirklich starke Kapitel ist.
Ich begreife nicht recht, woran das liegen mag. Die Kindheit ist ja ein einsames, ein egozentrisches Alter, und vielleicht macht der Schmerz mich wieder einsam und egozentrisch wie ein Kind.
Diese ständige Beschäftigung mit einem unbestimmten, gefährlichen Geheimnis im eigenen Körper, dieses Gefühl, es finde irgendeine dramatische Veränderung statt, ohne daß man sich darüber klar werden kann, was es eigentlich ist, das erinnert mich alles auf eine perverse Art an die Vorpubertät. Sogar dieses leise Schamgefühl erkenne ich wieder.
Als ich diesen verdammten Brief verbrannte, habe ich irgendwie die ganze Sache auf mich genommen. Ich werde allein kämpfen müssen, und ich werde meinen eigenen Tod haben.
Und trotzdem glaube ich nicht an ihn. Es ist gut möglich, daß sich im April schon alles verändert haben wird. Wenn es Nierengrieß ist, wird er früher oder später abgehen. Wenn es eine Entzündung ist, kann sie durchaus abklingen, sobald das Wetter etwas wärmer und freundlicher wird.
Ich fühle mich einfach viel zu vital für einen Sterbenden. Das Sterben denke ich mir als etwas viel Nebelhafteres, viel Kraftloseres.
Ein Sterbender kann zwischen den Schmerzanfällen keine langen Spaziergänge mit dem Hund machen.
Oder ist es vielleicht eine neue Art des Sterbens, die ich gerade erfinde?
Um das Maß des Unglücks vollzumachen, hat die Außenwelt sich zu melden begonnen, zum erstenmal seit Monaten.
Der Vorsitzende der regionalen Steuerbehörde, Schreiner Söderkvist, hat angerufen, sehr freundlich und zuvorkommend übrigens, um mich darauf hinzuweisen, daß eine Strafgebühr fällig ist, wenn ich keine Steuererklärung einreiche. Mein Vetter und seine Familie, die Manngårdhs, wollen zu Ostern auf dem Weg nach Sälen vorbeikommen, hier übernachten und »sich mal bei mir umsehen«, wie es heißt.
Das kann schlimm werden.
Zu Söderkvist habe ich gesagt, daß ich mich gerade ziemlich schlecht fühle. Er hat versprochen, an einem der nächsten Abende vorbeizukommen und mir zu helfen.
Es ist ja, wie er am Telefon sagte, keine besonders schwierige Steuererklärung. Wir werden sie bestimmt in weniger als einer Stunde geschafft haben.
»Um das Maß des Unglücks vollzumachen« – solche Redensarten versetzen mich schlagartig in meine Kindheit zurück. Darin hat es davon nur so gewimmelt.
»Um das Maß des Unglücks vollzumachen« bedeutet natürlich, daß zu dem Unglück noch etwas dazugekommen ist, ein Übermaß. Es ist soviel Unglück da, daß es überzufließen droht.
UM DAS MASS DES UNGLÜCKS VOLLZUMACHEN – das gehörte zu den Dingen, die meine Mutter immer sagte.
Tante Svea hätte es ganz anders ausgedrückt. Sie hätte gesagt:
ES KANN PASSIEREN, DASS MAN EIN NIGGERKIND KRIEGT.
DA HAT DER TEUFEL DIE HAND IM SPIEL – Papa.
LECK MICH DOCH AM ARSCH – Onkel Stig.
TEUFELSBLUT UND DIE TRÄNEN DER UNGEBORENEN
FLUCH UND VERDERBEN
ALSO NEIN, JETZT HAT ER DEN OPA INS BEIN GEBISSEN
Ich sehe sie im Sommer auf dem Lande am Frühstückstisch, gewöhnlich sind ein paar Verwandte dabei, die sich aufgedrängt haben. Onkel Knutte, ein wenig glatzköpfig, mit wabbligen bebenden Hängebacken, beim Frühstück stets etwas schwitzend, als vertrüge er es eigentlich nicht, immer recht schweigsam, abgesondert. Onkel Stig mit kurzem, eckig geschnittenen Bart und Goldrandbrille redet nur von Metallegierungen und den jüngsten Erfolgen der russischen Technologie im Koreakrieg. Von Panzern, die trotz ihrer Dünnwandigkeit den amerikanischen Raketenbomben standhalten. Von der Möglichkeit, sich die Wärme im Inneren der Erde zunutze zu machen, wenn die fossilen Energiequellen zu schwinden beginnen. Tante Svea, groß, mit hochroten Wangen und rauhen Händen, die sich wie Sandpapier anfühlen, wenn sie einem die Backen tätschelt, erzählt phantastische Geschichten von den Restaurantküchen der Krisenzeit: von mageren bläulichen Fuchskörpern mit abgehackten Pfoten, die ganz diskret um sieben Uhr morgens am Kücheneingang abgeliefert werden, von der schweren Pfanne mit dem Bauernfrühstück, die herumgereicht wird, bis sich an ihrer Oberfläche langsam eine dicke, graue Schicht von erstarrtem Fett bildet, und vom betrunkenen Holzhändler, der einen seiner Hosenträger ins Klo fallen läßt und ihn dann ordentlich über sein elegantes Nylonhemd vom Schwarzmarkt legt, ohne
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