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Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Titel: Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lars Gustafsson
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Oktober ’69 eine solche Tagung hatten, beschloß ich, nicht zu übernachten, sondern mit dem letzten Zug nach Hause zu fahren. Ich kann mich wirklich nicht erinnern, warum.
    Ich hatte meine Aktentasche in der Garderobe der Oper abgegeben, machte mich in der letzten Pause davon und kam gerade noch rechtzeitig zum Hauptbahnhof, um in den Zug einzusteigen, der um 22 Uhr 40 über Hallsberg und Västerås nach Oslo geht und gewöhnlich mit amerikanischen Touristen besetzt ist, die nach Norwegen reisen, und mit einer Menge von mehr oder weniger nüchternen Leuten, die in Enköping und Västerås aussteigen. Später wird er ja dann mehr und mehr zu einem Schlafwagenzug.
    Ich gehe in ein fast voll besetztes Abteil und setze mich hin. Links von mir schläft ein nach Schnaps stinkender Kerl, einen von diesen häßlichen Kamelhaarmänteln übers Gesicht gezogen, gegenüber sitzen einige magere kleine Mädchen, vielleicht Studentinnen, und rechts von mir auf dem Fensterplatz eine ziemlich große blonde Dame in den mittleren Jahren, anscheinend unverheiratet, die häßlich gewesen wäre, hätte sie nicht einen solch wundervoll schönen Kopf gehabt.
    Sonderbarerweise begann ich mit ihr zu reden, kaum daß ich hereingekommen war, ohne eigentlich von dem Buch aufzusehen, das ich aus der Aktentasche genommen hatte, davon zu reden, wie unbequem die Wagen in diesem Zug seien, von Fahrplänen, von Schlafwagen nach Oslo, weiß der Himmel von was noch alles – und das merkwürdige ist, daß ich kein einziges Mal aufsah. Ich redete lebhaft mit ihr und las dabei weiter in meinem Buch.
    Erst als wir in Kungsängen hielten und ich in den Korridor gehen wollte, um nachzusehen, wo wir eigentlich waren, sah ich sie an.
    Sie... wie soll ich sagen – sie strahlte Mütterlichkeit aus. Äußerlich gesehen war nichts Besonderes an ihr, sie war eher ein bißchen dick, aber als ich ihre Augen entdeckte, muß etwas Merkwürdiges... geschehen sein. Diese Augen wollten etwas von mir, sie machten mich wirklicher, es war etwas mit... (zwei Zeilen mit Tinte durchgestrichen)
    Und dann in Enköping, als ich feststelle, daß es um diese Zeit keine Verbindung mehr nach Tillberga gibt, und nur den Bruchteil einer Sekunde zögere, bevor ich ihr ungeheuer rasches und freundliches Angebot annehme, mich trotz der späten Stunde mit dem Auto hinzufahren – sie war Assistenzärztin im Krankenhaus von Enköping und daher an sonderbare Zeiten gewöhnt –, und der fast ebenso rasche Entschluß, nicht von Enköping wegzufahren, und dann Küsse, Zärtlichkeiten (eine banale Geschichte, nein, überhaupt nicht banal) und das Gefühl, von etwas völlig Fremden überwältigt worden zu sein, sich tatsächlich zu verändern , und dieses eigentümliche Erlebnis, daß es plötzlich ganz ruhig wurde.
    Als sei man heimgekommen.
    Ob ihr mir nun glaubt oder nicht, es verging ein ganzes Frühjahr, bevor ich sie wiedersah, obwohl wir nur sechzig, siebzig Kilometer entfernt voneinander wohnten. Darin lag eine Art von Verschwendung oder ein Gefühl von verschwenderischem Reichtum.
    Dafür pflegten wir spät abends miteinander zu telefonieren und uns von den Ereignissen des Tages zu erzählen. Wir schrieben uns Briefe, ganz sachliche, kurze Briefe mit kleinen Scherzen darin.
    Ich kannte bald die Namen aller Ärzte und Krankenschwestern und sogar die der interessantesten Patienten auf ihrer Station im Krankenhaus von Enköping, und sie wußte über fast alles Bescheid, was bei mir zu Hause passierte. Bei mir zu Hause passierte nicht viel.
    Ich führte so etwas wie ein Doppelleben, da ich einem anderen Leben so nahe war, das sich an einem anderen Ort und in einer anderen Umgebung abspielte, und vielleicht hatte ich gerade ein solches Doppelleben schon immer gebraucht, ohne es zu wissen.
    (Hatte schon immer die Vermutung, daß alle Lösungen irgendwo zwischen meinem und einem anderen Leben liegen.)
     
    Die ganze Geschichte hätte sich vielleicht beruhigen und einschlafen können. Wir hatten einmal miteinander geschlafen, das war in Ordnung. So etwas passiert eben mal, manchen Menschen passiert es häufiger, anderen weniger häufig. Wir hatten einmal miteinander geschlafen, es war sehr schön gewesen, es hatte mich ruhig gemacht; ich schließe die Möglichkeit nicht aus, daß sie es wenigstens ursprünglich in der Absicht getan hat, mich wirklich ruhig zu machen. Und dabei hätte es bleiben können.
    Aber diese Augen erinnerten mich an etwas. Sie riefen ganz einfach etwas in mir

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