Ritter 01 - Die Rache des Ritters
es für eine Umkehr zu spät sei.
»Lord Gunnar hat mich gebeten, Euch das hier zu geben, nachdem ich Euch nach Hause gebracht habe, Mylady.« Wesley zog ein kleines Stück zusammengefalteten Stoff unter seinem Umhang hervor. Eine dünne Lederschnur war um das Päckchen gewickelt. »Er bittet Euch, es sicher für ihn zu verwahren.«
Raina nahm das kleine Geschenk mit bittersüßer Dankbarkeit entgegen und hätte am liebsten sofort nachgesehen, was darinnen war. Aber sie wollte diesen Moment mit niemandem teilen. Was Gunnar ihr auch gegeben hatte, sie würde es für immer in Ehren halten.
»Reitet jetzt weiter«, sagte Cedric, als Raina Wesley rasch umarmte. »Euer Vater wartet gewiss schon auf Euch.«
Raina nickte widerstrebend und ritt bis zu der Lichtung am Fuß der Burg. Dort wandte sie sich um und hob die Hand, um den beiden Männern ein letztes Lebewohl zuzuwinken. Sie sah ihnen nach, bis ihre Silhouetten mit dem Grün des Waldes verschmolzen waren, und dachte verzweifelt an alles, was sie verlassen hatte. Erst als sie die beiden Ritter nicht mehr sehen konnte, wandte Raina ihre Aufmerksamkeit Norworth zu.
Der Wehrgang schien vor Geschäftigkeit zu wimmeln, während Wachen sich hinter den Brustwehren sammelten, um ihr Näherkommen zu bejubeln. Eine Stimme erhob sich über die anderen, und Raina entdeckte ihren Vater, der sich seinen Weg durch die Menge bahnte, die sich auf dem Turm versammelt hatte.
»Raina!«, rief er und stützte sich zwischen zwei Zinnen auf die Mauerbrüstung und spähte zu ihr herunter. »Oh, gepriesen sei Gott, es ist meine Raina!«
Ihr gebrochenes Herz machte einen kleinen Sprung, als sie das Gesicht ihres Vaters sah, seine Stimme hörte … trotz allem, was sie über ihn erfahren hatte. Trotz allem, was er getan hatte, war er alles, was sie hatte. Und sie brauchte seinen Trost heute mehr denn je.
»Vater!«, rief sie und drängte ihr Pferd zum Galopp, während er sich von der Brustwehr abwandte und zum Turm eilte.
Kurz darauf durchritt Raina den Schatten des Tores und überquerte die Zugbrücke, die zum inneren Burghof führte. Ihr Vater, der hager und ausgezehrt aussah, erschien in der Tür des Turmeingangs. Sein spärliches Haar bildete einen wirren Kranz um seinen Schädel, seine Kleider waren zerknittert und schlimmer verschmutzt als ihre. Er stolperte die breite Steintreppe hinunter, dann betrat er schwerfällig den Hof, während Raina ihr Pferd zum Stehen brachte und aus dem Sattel glitt. Sie warf sich in seine ausgebreiteten Arme.
Die Tränen ihres Vaters flossen so reichlich wie ihre und netzten ihre Schulter, als er das Gesicht an ihrem Hals verbarg und wie ein kleines Kind weinte. Raina hielt ihn fest, beruhigte sein heftiges Schluchzen mit den trostreichen Worten, dass sie unbeschadet zurück sei.
Als er sich an sie klammerte und an ihrer Schulter unzusammenhängende Worte murmelte, bemerkte Raina mit einem Gefühl der Überraschung, dass er sich in den letzten Tagen nicht gewaschen hatte und, vielleicht noch beunruhigender, stark nach Wein roch. Wäre er jemand anders gewesen, hätte diese Feststellung sie nicht sonderlich beunruhigt, aber er war ihr Vater, ein Mann, der niemals trank. Sie fühlte sich plötzlich schrecklich schuldig, denn vermutlich hatte die Angst, sie verloren zu haben, ihn dazu getrieben … während sie sich in den Armen seines Feindes vergnügt hatte.
Sie erflehte den Beistand des Himmels, als sie den Beschluss fasste, es ihm zu sagen. Sie musste ihm alles sagen. Sie schob ihren Vater ein Stück von sich weg, strich ihm über die Stirn und streichelte seine faltige Wange. »Ach Vater, es gibt so vieles, das Ihr erfahren müsst.«
Er nickte geistesabwesend, seine Miene war ausdruckslos, blicklos. »Aye, natürlich, natürlich.«
Die Menschen, die Rainas Ankunft vom Turm aus verfolgt hatten, versammelten sich jetzt auf dem Burghof, umringten sie und ihren Vater und stellten aufgeregt Fragen, um alle Einzelheiten über die Entführung zu erfahren und wie es ihr gelungen war, ihrem Entführer zu entkommen. Raina beantwortete keine dieser Fragen, sie beobachtete nur das sonderbare Verhalten ihres Vaters mit großer Sorge.
»Vater, bitte«, sagte sie leise, »was ich zu sagen habe, muss ohne Zeugen gesagt werden.«
Bei ihrer drängenden Bitte wurde ihr Vater plötzlich aufmerksam. Er legte beschützend den Arm um ihre Schultern, führte sie durch die aufgeregte Menge und gebot allen, ihnen aus dem Weg zu gehen, als sie auf den Turm zugingen.
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