Ritter 01 - Die Rache des Ritters
»Aus dem Weg!«, bellte er. »Seht ihr nicht, dass meine Tochter müde ist? Fort, fort! Ich will mit ihr allein sein!«
Er führte sie in den Turm, vorbei an der großen Halle und in sein Zimmer. Raina blieb mitten im Raum stehen, als er sich umwandte und die Tür hinter sich schloss. Sie war bestürzt, als sie sah, was in der Zeit ihrer Abwesenheit aus seinem stillen Hafen geworden war.
Ein Tablett mit Essensresten stand in der Ecke neben einer verschütteten Flasche Wein. Es schien, dass nahezu jeder Becher der Burg seinen Weg in dieses Gemach gefunden hatte, einige von ihnen standen in einer sorgsam ausgerichteten Reihe auf dem Fenstersims, andere lagen unbeachtet dort, wo sie umgekippt waren. Ein Frösteln überlief Raina, als sie sich umwandte und ihren Vater ansah, der nur noch wie der Schatten des Mannes aussah, den sie vor gerade einmal einer Woche hier zurückgelassen hatte. Sie schlang die Arme um sich, obwohl sie wusste, dass sie nichts Tröstendes in dieser Geste finden würde.
»Dir ist kalt«, verkündete er und kniete sich vor den Kamin. Er keuchte plötzlich, dann streckte er die Hand aus und griff nach einem angekohlten Gegenstand. Er drückte ihn fest gegen seine Brust, als wollte er ihn verbergen, dann wandte er sich Raina zu und sah sie schuldbewusst an. »Ich wollte sie nicht verbrennen«, flüsterte er heftig und schüttelte den Kopf wie ein reumütiges Kind. »Wirklich, ich wollte es nicht!«
Raina trat näher, um zu sehen, was er in der Hand hielt, und wäre fast in Tränen ausgebrochen. Er hatte die Bibel ihrer Mutter ins Feuer geworfen.
Sein Kinn zitterte, als er sie ihr hinstreckte, als gäbe er ihr einen kleinen Vogel, der aufgepäppelt werden musste. Ruß bedeckte die Vorderfront seiner Tunika und hatte dort Flecken auf seinem Kinn hinterlassen, wo das Buch es berührt hatte. »Es tut mir leid, Margareth«, murmelte er und blinzelte Raina an. »Es tut mir so leid.«
Die Bibel entglitt seinen zitternden Händen und öffnete sich, als sie auf dem Boden aufschlug. Die herrlich illuminierten Seiten, die Raina in ihrer Kindheit so viel Freude gemacht hatten – und die ihr jetzt so sehr viel mehr bedeutet hätten – , waren nicht mehr voneinander zu unterscheidende Fetzen aus Farbe inmitten einem Meer aus Schwarz, die Ränder weggefressen vom Feuer. Die letzte Erinnerung an ihre Mutter – war für immer zerstört.
»Ich habe alles kaputt gemacht«, murmelte ihr Vater. Er kauerte vor dem Kamin und hatte die Hände an die Schläfen gepresst. Er schüttelte wehmütig den Kopf. »Kannst du mir je verzeihen?«
Raina kniete sich neben ihn und nahm seine schmutzige runzlige Hand in die ihre. »Lieber Vater, was ist hier geschehen? Was ist mit Euch geschehen?«
»Nichts, Kind«, murmelte er undeutlich. »Nichts von Bedeutung, jetzt, da du wieder daheim bist.«
Er wollte sie umarmen, doch Raina entzog sich ihm, fasste ihn an den Schultern. »Ihr müsst aufhören, mich vor der Wahrheit zu beschützen«, sagte sie. »Seht mich an, bitte, und seht mich so, wie ich bin. Ich bin kein Kind mehr, das Euren Schutz braucht.«
Er runzelte die Stirn, dann stand er auf. Er richtete eine umgefallene Weinflasche auf und sah Raina bedeutungsvoll an. »Ich hatte niemals vor, in meine alten Gewohnheiten zu verfallen, aber der Gedanke, dich zu verlieren – « Seine Stimme brach, und er holte zittrig Atem. »Ich bin ein schwacher Mann, Tochter. Ich konnte es allein nicht ertragen.«
Raina spürte Tränen in sich aufsteigen. »Es tut mir leid, dass Ihr Euch meinetwegen Sorgen gemacht habt. Es tut mir sehr leid, dass Ihr so viel Leid ertragen musstet.«
Er lachte bitter und schüttelte den Kopf. »Du beschämst mich, wenn du dich für das entschuldigst, was ich über dich gebracht habe, Raina. Es bricht mir das Herz, mir vorzustellen, was du erduldet haben musst – « Ein Schluchzen erschütterte seine gebeugten Schultern.
Raina dachte an die Zeit, die sie fern von Norworth verbracht hatte, und daran, was sie ihr jetzt bedeutete. »Ich habe nichts erdulden müssen, Vater. Gunnar ist ein guter Mann; er war sehr freundlich zu mir.«
Der Baron hob langsam den Kopf. Er sah sie aufmerksam an, als seine Augenbrauen sich in dämmerndem Begreifen zusammenzogen. »Er, Gunnar , hat dich freundlich behandelt … «
»Ja«, erwiderte sie leise und vertraute darauf, dass er die Wahrheit erkannte.
Er schien lange über ihre Worte nachzudenken, dann fragte er schlicht: »Hat er … dir von mir erzählt? Ich kann mir
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