Ritter und Raufbolde
schwierig, durch bloßen Augenschein die Größe einer Menschenansammlung zu schätzen. Dies gilt besonders für das gegnerische Heer und die Unübersichtlichkeit einer Schlacht. Erst wenn der Geschichtsschreiber Einblick in die Organisation und Verwaltung des Heeres hat, kann er zu präziseren Angaben gelangen. Dies ist aber nur selten der Fall; außerdem erscheint es sehr fraglich, ob überhaupt ein Teilnehmer eines Kriegszuges oder einer Schlacht genau wusste, wie viele Kämpfer auf einer Seite fochten. Aber selbst wenn einem Geschichtsschreiber zuverlässige Zahlen zur Verfügung standen, ist damit noch nicht gesagt, dass er diese auch ungeschönt niederschrieb.
Gerade durch Zahlenangaben ließen sich bestimmte Wirkungen in der Geschichtsdarstellung erzielen: Wir haben verloren, |95| weil wir wenige und die anderen viele waren; oder: Obwohl wir so wenige waren, haben wir die große Übermacht des Feindes in die Flucht geschlagen; oder: Die große Anzahl unserer Truppen belegt, wie viele Unterstützer unsere Sache hatte. Die Angaben zur Truppenstärke aus der Geschichtsschreibung sind also selten zuverlässig. Dies belegt etwa ein Beispiel, in dem die Angabe der Truppenstärke rein metaphorisch zu verstehen ist und auf die Größe des christlichen Gottes, der den Seinen den Sieg schenkt, verweisen soll; Ansbert berichtet in seiner Geschichte zum Kreuzzug Kaiser Friedrichs I. von einem Angriff der Muslime auf das Lager der Christen im Jahr 1190:
Aber das Heer des lebendigen Kreuzes begegnete den Angriffen tapfer, zuerst mit Fußtruppen, dann mit der Reiterei, sodass zwei zehntausende in die Flucht schlugen. 11
Hier wird nicht die historische Wirklichkeit wiedergegeben, sondern mit einem Zitat aus dem Buch Deuteronomium (32, 30) Gottes Allmacht betont: Nur ein wahrhaft mächtiger Gott vermag zwei Christen gegen 10 000 Muslime den Sieg zu schenken.
Der günstigere Fall für den modernen Historiker liegt dann vor, wenn sich Soldlisten oder andere Akten der mittelalterlichen Kriegsverwaltung erhalten haben. Dies ist aber nur vergleichsweise selten der Fall und trifft vor allem für solche Kriegsherren zu, die über ein gut ausgebautes Verwaltungswesen und eine ausgefeilte Kriegsbürokratie verfügten, wie für die englische Monarchie im 14. und 15. Jahrhundert. So kennen wir etwa für die Schlacht von Agincourt (1415) Musterungslisten (Muster Rolls) und die Auflistungen von Gefolgsmännern (Retinue Lists). Hier ist verzeichnet, wer gegen Soldzahlung und wer als Teil seiner Pflicht als Gefolgsmann für den englischen |96| König Heinrich V. an dem Kriegszug teilgenommen hat: 1422 Reiterkrieger und 5116 Bogenschützen. Die Engländer hatten also für den Kriegszug nach Frankreich 6538 Mann auf der Liste. Dies sagt natürlich noch nichts darüber aus, wie viele genau bei Agincourt gekämpft haben, da Ausfälle auf dem Marsch, Desertionen und andere Vorkommnisse, welche die Anzahl der Kämpfer reduzieren konnten, nicht berücksichtigt sind. Wir haben aber immerhin einen ziemlich präzisen Anhaltspunkt. Vergleichbare Zahlen für die französische Seite liegen uns freilich nicht vor.
Verglichen mit antiken und neuzeitlichen Heeren waren mittelalterliche Verbände also eher klein(er). Für das 15. Jahrhundert hingegen waren 6000 Mann eine beachtliche Truppe. Die Größe der Heere wurde durch verschiedene Faktoren bestimmt: Rekrutierungsmechanismen, Heeresstruktur oder auch die Bevölkerungszahl. Man kann sie auch als Indiz für den Grad an Verstaatlichung verstehen, in der sich eine Gesellschaft befindet. Je mehr Zugriff ein Staat auf seine Untertanen und deren finanzielle und personelle Ressourcen hat, desto größere Kontingente kann er unter Waffen stellen und in den Krieg schicken. Hochphasen dieser Systematik stellen die römischen Legionen und die Volks- oder Massenheere des 21. Jahrhunderts dar. Das Mittelalter steht gleichsam zwischen diesen beiden Polen.
Rekrutierung von Truppen erfolgte in dieser Zeit auf verschiedenen Wegen, war aber niemals vergleichbar flächendeckend wie in der Antike oder der Neuzeit. Es lassen sich zwei Rekrutierungsmechanismen unterscheiden: Verpflichtung und Sold. Entweder zwang ihre gesellschaftliche Stellung Männer zum Kriegsdienst – oder zur Zahlung, um sich davon zu befreien. Kriegsherren griffen zu jeder Zeit im Mittelalter andererseits auch auf Soldzahlungen und Söldner zurück. Oftmals |97| waren es dabei genau dieselben Personengruppen, die vorher (oder am Anfang eines
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