Ritter und Raufbolde
den adligen Frauen angetan haben. Aber – unter vielen anderen brutalen Übergriffen – haben sie folgendes gemacht: Sie töteten einen Ritter, spießten ihn auf und brieten ihn über dem Feuer vor den Augen seiner Frau und seiner Kinder. Nachdem gut ein Dutzend die Frau vergewaltigt hatten, versuchten sie die Frau und ihre Kinder dazu zu zwingen, das Fleisch des Ritters zu essen. Danach töteten sie alle auf grausame Weise. 7
Hier finden sich so ziemlich alle Gewalt-Stereotypen, die man im Mittelalter einem Gegner unterstellen kann: Kannibalismus, Vergewaltigung von Frauen und all das vor den Kindern der Opfer. Für den modernen Betrachter sagt diese Zuschreibung freilich mehr über die Gewaltvorstellungen Froissarts und seiner Zeitgenossen aus als über die Handlungen der aufständischen Bauern. Auch hier muss man stereotype Vorstellungen von der Wirklichkeit unterscheiden. Dem Autor geht es darum, die Bauern als grausam und niederträchtig darzustellen und auf diese Weise die Gewalt zu rechtfertigen, die von den adligen Rittern Frankreichs eingesetzt wurde, um den Aufstand niederzuschlagen. Denn nichts legitimiert Gewalt so überzeugend |90| wie das Argument der Reziprozität: Wir sind brutal (oder noch brutaler), weil die anderen auch brutal waren. Das Vorgehen der Ritter bedarf dabei vor allem deswegen der Begründung, weil es sich bei den Bauern um Landsleute und Glaubensbrüder handelte. Um gegen seinesgleichen gewaltsam vorzugehen, brauchte man eine Legitimation: Wer Frauen schändet und zum Kannibalismus zwingt, hat sich offenbar aus der Gemeinschaft der Christen verabschiedet und kann mit allen Mitteln bekämpft werden.
Ein Gewaltbild, das im Mittelalter immer wieder begegnet, ist das Anzünden einer Kirche, in der sich Menschen befinden (siehe den Abschnitt, Gewalt gegen Frauen’, S. 81). Im christlichen Abendland werden durch so eine Handlung gleich mehrere Tabus gebrochen. Man vergreift sich an einem sakralen Ort; man lässt die Hoffnung der Gläubigen, die sich in den Schutz ihres Gottes geflüchtet haben, ins Leere laufen; und man tötet Wehrlose. So verwundert es nicht, dass dieser Vorwurf der Gegenseite immer wieder gemacht wurde und eines der Gewaltszenarien darstellt, die als berichtenswert eingestuft wurden. Bei allen Abstrichen, die man bei den stilisierten Gewaltzuschreibungen – wie etwa bei Froissart – machen muss, belegen sie doch eins: Wenn der Chronist zu derartigen Bildern greifen muss, kann man davon ausgehen, dass die alltägliche Gewalt in dieser Zeit massiert auftrat.
Es ist dabei interessant festzustellen, wie langlebig diese Gewaltbilder im Abendland sind und waren. Im Jahr 2000 erzählte der Film
Der Patriot
mit Mel Gibson in der Hauptrolle die Geschichte des amerikanischen Unabhängigkeitskampfes im 18. Jahrhundert. In einer Szene treibt eine britische Kavallerie-Einheit die Bewohner eines Dorfes (vornehmlich Frauen und Kinder), das die Rebellen unterstützt, in der Kirche zusammen und zündet diese dann an. Hier wird, ähnlich wie in den |91| mittelalterlichen Chroniken, ganz gezielt ein bestimmtes Gewaltszenario eingesetzt, um jenseits der historischen Wirklichkeit der Unabhängigkeitskriege zu zeigen, wer die Bösen sind. Der Bezugspunkt für diese Szene, welche die Kavalleristen in schwarzen Uniformen zeigt, ist freilich nicht das Mittelalter, sondern ein Kriegsverbrechen der Waffen-SS im französischen Dorf Oradour-sur-Glane im Jahr 1944.
Gewalt als Mittel der Kriegführung
Fragt man nach den kriegerischen Situationen und Konstellationen, in denen Nichtkombattanten im Mittelalter Opfer von Kriege(r)n wurden, so ergibt sich ein Befund, der die Ähnlichkeit mittelalterlicher und moderner Konflikte verdeutlicht: Gewalt gegen Nichtkombattanten wurde auch von mittelalterlichen Heerführern ganz bewusst eingesetzt, um Kriegsziele zu erreichen. Etliche Übergriffe waren sicherlich die Folge mangelnder Disziplin oder wurden einfach billigend in Kauf genommen. Hier wird man sicherlich auch die gewaltfördernde Dimension von Gruppendynamik in Betracht ziehen müssen. Aus dem Verhalten und den Berichten mittelalterlicher Heerführer wird aber auch deutlich, dass sie ganz bewusst auf Nichtkombattanten abgezielt haben. Stadtbewohnerinnen und -bewohner wurden umgebracht und verschleppt, um anderen Städten die Entschlossenheit und Härte der eigenen Truppen zu demonstrieren. Auch das gegenteilige Verhalten ist belegt: Ostentative Schonung von Unterlegenen sollte verbleibende
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