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Ritualmord

Titel: Ritualmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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waren hauptsächlich wissenschaftliche 
    Hilfskräfte, und die Übrigen kamen von der Straße, sie machten es für Geld.« Sie verstummte, denn plötzlich war ihr etwas eingefallen. Thoms nächtliches Grauen. Er war immer davon überzeugt gewesen, dass Kaiser nachts auf der Straße Menschen jagte. Sie fröstelte. Vielleicht hatte Thom immer schon die Wahrheit gekannt - oder vermutet. Was sie Caffery gesagt hatte, entsprach der Wahrheit. Die Videos ließen sich erklären, sie waren unheimlich, aber nicht so unheimlich, wie er dachte. Aber auf einer anderen Ebene, ganz tief in ihr drin, wusste sie, dass sie unheimlich waren, weil sie etwas über Dad sagten, worüber sie nicht nachdenken wollte.
    Sie fuhr sich über die Stirn und bemühte sich um eine ge- fasste Miene. »Sie verstehen, was ich meine? Es hat nichts mit Mallows zu tun.«
    Caffery wirkte müde, als hätte er seit Jahren nicht mehr geschlafen. »Zumindest müsste ich einen Bericht schreiben und einen Durchsuchungsbeschluss erwirken.«
    »Formal gesehen, ja«, murmelte sie. »Das müssten Sie.«
    »Aber hier in England kann ich ihn nicht belangen. Es sei denn, er wäre zu der Zeit im nigerianischen Staatsdienst gewesen. Was er vermutlich nicht war?«
    »Nein.«
    »In dem Fall ginge die Sache an...«
    »Interpol«, beendete sie den Satz. »Ich weiß - ich habe schon darüber nachgedacht.«
    Er ließ seinen Blick eine Weile auf ihr ruhen. Dann nahm er die Hand von der Tür und zerrte an seiner Krawatte, bis sie so locker war, dass er sie über den Kopf ziehen konnte. »Na, kommen Sie«, sagte er und stopfte die Krawatte in seine Brusttasche. »Darum kümmern wir uns, wenn es so weit ist. Im Augenblick möchte ich mit dem alten Halunken über etwas ganz anderes reden.« 
    »Sekundäre Aufmerksamkeit. >Der Weg des Herzens.< Ein Winkel, ein Spalt in unserem Bewusstsein, in den wir manchmal hineinstolpern - der Ort der Erleuchtung.«
    Kaiser sprach leise, während er sich von Caffery durch den Korridor zurückführen ließ. Die zu weite Hose hing an seiner mageren Gestalt. Flea folgte ein paar Schritte hinter ihnen und wünschte, sie könnte ihn am Reden hindern. Sie wollte nicht hören, was er vielleicht über Dad und die Videos zu sagen hatte.
    »Die christliche Kirche«, fuhr er fort, »versucht so zu tun, als existierte es nicht. Aber andere Religionen sind weniger zurückhaltend - die alten Religionen, meine ich, die aus Leidenschaft und Intelligenz geboren sind, aus einem Verständnis für die Erde und den Lauf der Jahreszeiten. Nicht diejenigen, die durch Politik und Imperialismus verbreitet und aufgezwungen wurden.«
    »Was haben Sie in der Klinik gemacht?« Caffery schob ihn ins Wohnzimmer.
    Kaiser ließ sich auf dem Sofa nieder und redete weiter, als hätte er ihn nicht gehört. »Die alten Religionen wissen, dass es einen Ort gibt, zu dem wir nur selten Zugang finden, den Ort der wahren Erleuchtung. Es ist schwierig, sehr schwierig, dort hinzukommen. Ihn zu erforschen.«
    »Kaiser...«, sagte Flea. Sie stand mit dem Rücken zum offenen Schrank und sah ihn an. Ihr Leben lang hatte sie geglaubt, der Schrank enthalte Drogen. Jetzt ballte sie die Fäuste hinter dem Rücken. »Antworte auf die Frage, Kaiser.«
    »Er existiert in uns allen. Jeder von uns kann ihn finden, aber nur wenigen gelingt es. Außer natürlich, wenn wir sterben. In den paar Sekunden vor unserem Tod sind unsere Neuralbahnen so programmiert, dass sie uns vor dem Abschalten einen winzig kurzen Zugang zu diesem Ort gewähren - zu dem Ort, zu dem ich mich hingezogen fühle.«
    Caffery hob die Gartenschere vom Boden auf und legte sie 
    ans andere Ende des Zimmers. Er verschränkte die Arme und lehnte sich ans Fenster. In der einen Hand hielt er einen Stapel Papier: die Einwilligungserklärungen, die Flea auf den Boden gelegt hatte. »Ich habe Sie gefragt, was Sie in der Klinik gemacht haben. Können Sie mir diese Frage beantworten?«
    »Ah, ja, aber ich versuche Ihnen zu erklären, warum ich gezwungen war, Schmerz als nächste Annäherung an den Tod zu benutzen. Manche glauben, es gebe noch einen anderen Weg, der über gewisse Halluzinogene führt. Phoebes Vater zum Beispiel...«
    »Kaiser\«, warf sie unvermittelt ein. Er erschrak. »Beantworte die Frage!«
    Er starrte sie verblüfft an. »Welche Frage?«
    »Meine Frage.« Caffery trat vom Fenster zurück und zog einen Stuhl unter dem staubigen Esstisch hervor. Er stellte ihn vor das Sofa und setzte sich, stützte die Ellbogen auf die

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