Ritualmord
verletzen?«
»Es gibt Anzeigen von Leuten, die Sie gesehen haben. Aus der Bevölkerung, von Leuten, die nicht wissen, wer Sie sind, aber die vielleicht beobachtet haben, wie Sie draußen schlafen, und dachten, Sie könnten krank sein.«
»Oder eine Gefahr für sie.«
»Wir werfen in unserem Job nichts weg. Irgendwo gibt es Erkenntnisse über Sie.«
»Erkenntnisse«, sagte der Walking Man wie zu sich selbst, als wäre das ein falsches Wort im Zusammenhang mit der Polizei. Er wandte Caffery den Rücken zu und kümmerte sich um sein Abendessen. »Er-kennt-nis-se.«
Mit dem Flaschenöffner, der an einem Band um seinen Hals hing, stieß er Löcher in vier Konservendeckel und stellte die Dosen mitten ins Feuer. Dann setzte er sich hin; seine klobige Kleidung verlangsamte seine Bewegungen, und er wickelte die Stoffstreifen ab, die um seine Beine gewunden waren. Vorsichtig löste er die Schnürsenkel, zog sorgfältig die Stiefel aus und stellte sie neben seinem Schlafsack auf den Boden. Dann schälte er sich die Socken von den Füßen – es waren drei Paar – und inspizierte seine Füße. Caffery bemerkte, dass die Füße des Walking Man an den Stellen, wo seine eigenen schwielig und rot waren, schwarz aussahen – als schiede sein Körper eine Art schützende Teerschicht aus. Mit den Stoffstreifen rieb er sie ab, und dann zog er zwei Paar trockene Socken an und darüber so etwas wie Schaffellpantoffeln, die er mit den Stoffstreifen an den Knöcheln festband. Danach nahm er sich seine Stiefel vor: Er fuhr mit der Hand durch das Innere, klopfte die Absätze gegeneinander, schmierte sie beide von innen mit einer dünnen Schicht Vaseline aus einem winzigen Tiegel ein und stellte sie zum Trocknen neben das Feuer. Der Walking Man wanderte jeden Tag von morgens bis abends, und seine Stiefel brauchten so viel Aufmerksamkeit wie möglich.
»Ich habe einen weiten Weg hinter mir, um Sie zu sehen.«
»Ach ja?«
»Ich habe lange gebraucht, um herzukommen.«
»Na ja, ich habe ein ganzes Leben gebraucht, um dahin zu kommen, wo ich jetzt bin.«
»Ich weiß.« Caffery trat von einem Bein auf das andere. Es war wirklich kalt hier draußen. Bitterkalt. »Ich bin hier, weil ich möchte, dass Sie mir etwas erzählen. Ich möchte über das reden, was Sie getan haben.«
Der Walking Man lachte, sanft und höflich, als hätte er einen kleinen Witz gehört. »Und wo steht, dass ich umsonst rede?«, fragte er. »Hmm? Habe ich ein Schild auf dem Rücken, auf
dem steht, dass ich bereit bin, mit jedem zu reden?« Er lachte immer noch. »Sie sind nicht mein Boss. Po-li-zist.«
Caffery knöpfte seine Jacke auf und zog eine Literflasche Scotch unter seinem Pullover hervor. Er hielt sie dem Walking Man entgegen. »Ich habe Ihnen etwas mitgebracht.«
Der Walking Man schaute die Flasche und dann Caffery an. Nach einer Weile kam er näher, nahm die Flasche und drehte sie in den Händen. Aus der Nähe betrachtet, waren seine Fingernägel gewölbt und gelb, als würde darunter etwas Übles gären, sodass sie jeden Augenblick abfallen konnten. Er roch nach Feuerzeug und Rauch.
»Neunzehnhundertachtzig«, sagte er nachdenklich und betrachtete das Flaschenetikett mit dem weiß-goldenen Bild eines Teeklippers, »war ein durchschnittliches Haus in Bristol zwanzigtausend wert. Wussten Sie das?«
Caffery ließ sich niemals beirren, wenn jemand unverhofft das Thema wechselte. Das gehörte zu seinem Beruf als Polizist. »Nein, wusste ich nicht. Vielleicht könnte ich ungefähr abschätzen, wie es in London war. Aber hier draußen nicht. Das hier ist ein neues Territorium für mich.«
»Tja, jetzt kennen Sie das Geheimnis. Zwanzig Riesen. Meine Eltern, wissen Sie, waren Arzte – natürlich sind sie inzwischen beide tot –, und sie hatten eins der größten Häuser in Clifton. Neunzehnhundertachtzig haben sie sechzigtausend dafür bezahlt, und als sie starben, fiel es direkt an mich. Natürlich konnte ich es nicht bewohnen, denn ich saß in Long Lartin im Hochsicherheitstrakt bis…« Er machte ein Geräusch hinten in der Kehle und verdrehte die dunkelblauen Augen. »Aber das wissen Sie schon, oder?«
»Ich habe die Akte gesehen.«
»Der Testamentsvollstrecker bezahlte die Steuer und übergab das Haus einer Verwaltungsfirma. Während der letzten zehn Jahre meiner Haftstrafe brachten sie die Miete auf die Bank. Das Haus war ein Schmuckstück, das konnte sogar
ich sehen. Es hatte sechs Schlafzimmer und eine Remise, eins der schönsten
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