Ritualmord
Zeugnisse georgianischer Architektur in Bristol, hat der Makler gesagt. Als ich letztes Jahr aus dem Knast kam, habe ich es verkauft. Was, glauben Sie, habe ich bekommen?«
»Ich habe eben ein Haus in London verkauft. Nichts Besonderes, aber meine Eltern haben in den Siebzigern fünfzehntausend dafür bezahlt, und ich habe mehr als dreihundertfünfzig bekommen. Ich weiß es nicht. Fünfhunderttausend?«
»Versuchen Sie’s mit dem Vierfachen. Fast zwei Millionen. Jeden Monat wandern mehr als achttausend Pfund Zinsen auf mein Konto. Steht das auch in meiner Akte?« Er warf die Flasche in die Luft, sodass sie sich drehte, hell vor dem dunkelblauen Himmel, und fing sie mit einem Lächeln wieder auf.
»Hier.« Er stieß sie Caffery gegen die Brust. »Ich trinke Cider. Aber trotzdem danke.«
Flea blieb bis acht bei Tig. Sie holten sich Fish and Chips in dem einzigen Laden in Bristol, der immer noch Zeitungspapier als Verpackung benutzte, kehrten damit zurück in seine Wohnung, leerten zusammen eine Flasche Wein und redeten, und die ganze Zeit ermahnte sie sich, ihn endlich nach der SMS zu fragen – und worüber er hatte sprechen wollen. Aber sie vergaß es, und als sie dann gehen wollte und sich schließlich daran erinnerte, winkte er ab. Nein, sagte er, es war nichts weiter. Wollte dich nur mal wieder sehen, das war alles.
Sie knöpfte ihre Jacke zu, suchte ihre Schlüssel und gab Tig einen Kuss auf die Wange. Er erstarrte immer, wenn sie ihm so nah kam, spreizte die Arme ab – aber sie tat es trotzdem. Sie wandte sich ab und lächelte verstohlen, weil sie ihn so sehr in Verlegenheit gebracht hatte. Dann bemerkte sie seine Mutter, die in der Tür stand. Sie trug einen pinkfarbenen gesteppten Hausmantel, und ihr langes graues Haar hing offen auf die Schultern. Sie sah älter aus als fünfzig und machte den Ein
drucks als befände sie sich nur zur Hälfte wirklich in der Welt. Ein Skelett im Nachthemd.
»Mum«, sagte Tig. »Mum. Geh wieder ins Bett. Es ist spät.«
Aber sie hielt sich am Türrahmen fest und blickte mit verwirrter Miene von einem zum anderen. Ihr Mund klappte auf und zu, als wollte sie etwas sagen. Tig stand auf und umfasste ihren Arm.
»Oh, Tommy«, murmelte sie. »Bitte. Sag ihnen, sie sollen weggehen, ja, Schatz? Sag ihnen, sie sollen mich in Ruhe lassen.«
»Komm, Mum, du hast wieder geträumt. Ab ins Bett.«
»Sag ihnen, sie sollen mich in Ruhe lassen – die Schwarzen.«
»Mum, bitte.« Tig legte den Arm um sie und versuchte sie in den Korridor zu bugsieren. »Komm, Liebes, geh wieder ins Bett.«
Aber sie sträubte sich, klammerte sich am Türrahmen fest und sah sich Hilfe suchend nach Flea um. Die Adern unter ihrer gelben Haut zeichneten sich blau ab. »Ach du liebe Güte«, flüsterte sie. »Ach, mein Schatz, ich hab solchen Ärger.«
»Mrs. Baines, erinnern Sie sich an mich? Ich bin Flea. Wir haben uns schon gesehen. Wissen Sie noch?«
»Sagen Sie es ihnen, Schatz, ja? Sagen Sie ihnen, sie sollen mich in Ruhe lassen mit ihrer Bummbumm-Musik und ihren Gerüchen. Sie sollen aufhören, in meinem Flur auf und ab zu laufen und ihre Gesichter durch meine Wände zu schieben.«
»Keine Sorge, Mrs. Baines.« Flea trat näher und legte ihr eine Hand auf den Arm. Er war kalt und so dünn wie ein Streichholz. »Ich bin sicher, Tommy hat alles im Griff.«
Mrs. Baines blinzelte sie an. Dann begann sie zu weinen. Es klang dünn und verwirrt und ohne Energie. Sie streckte die Hand nach Tig aus. »Tommy, sorg dafür, dass der Kleine aufhört, sein Gesicht durch meine Wand zu schieben.«
»Mum. Das ist eine Fernsehsendung. Du hast zu viel ferngesehen.«
»Ich weiß, dass es eine Fernsehsendung ist, Tommy. Das weiß ich. Hast du das Buttermesser?« Sie entwand sich ihm und spähte mit trüben Augen in der Küche umher. »Wo ist das Buttermesser? Das Buttermesser von deinem Dad, das mit dem Knochengriff. Gib es mir, damit ich mich verteidigen kann.«
Tig warf Flea einen verzweifelten Blick zu, und sie wusste, dass er sie bat, ihm zu helfen. Aber sie konnte nur ihr Gesicht mitfühlend in Falten legen. Vielleicht machte sie sich etwas vor, wenn sie dachte, dass sie Thoms wegen verstehen konnte, was Tig mit seiner Mutter durchmachte. Aber das hier war viel schlimmer als ein arbeitsloser Bruder, der unter Depressionen litt. Was Tig täglich zu bewältigen hatte, überstieg ihr Vorstellungsvermögen. Und irgendwie schaffte er es, nicht wieder zu fixen.
»Komm schon, Mum, ich bringe dich wieder
Weitere Kostenlose Bücher