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Ritualmord

Titel: Ritualmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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»Jack Caffery.«
    »Jack Caffery.« Der Walking Man lachte leise. »Jack Caffery, der Polizist.« 
    Er stocherte im Feuer und schob die Konservendosen fachmännisch darin herum. Aus zweien quoll ein dünner Faden Dampf, und er rückte sie in die Glut am Rand. Die Sonne war untergegangen, und die weißen Strähnen der Bartflechte an den oberen Asten sahen aus wie bläulicher Dunst, wie kleine Nachtwolken.
    »London also? Da wohnen Sie?«
    »Nein. Ich wohne hier. In den Mendip Hills.«
    »Aber Sie sind ein Londoner Junge. Das sehe ich Ihnen an, auch ohne dass Sie Ihren Polizistenmund aufmachen.«
    »Die Familie stammt aus Liverpool und vorher aus Donegal – aber ich, ja, ich bin aus London. Und jetzt bin ich hier. Bin vor zwei Monaten versetzt worden.«
    »In den Westen?«
    »Weil ich mit Ihnen reden wollte.«
    »Da hätten Sie auch ein Supersonderangebot nehmen können, in der Nebensaison. Hätten den Tag mit mir verbracht und wären dann in den Smog zurückgefahren, wo das Leben so viel besser ist. Hm?«
    Caffery lachte trocken.
    »Aber das ist es nicht«, fuhr der Walking Man fort. »Oder? Es geht nicht nur darum, mich zu sehen. Da gibt es noch mehr.«
    »Da gibt es immer noch mehr.«
    »Eine Frau?« Ein Lächeln kräuselte den Bart. »Jack Caffery, Polizist, machen Sie mir nichts vor. Da gibt es immer eine Frau.«
    »Gab. Es gab eine Frau. Ja.«
    Der Walking Man beobachtete Cafferys Gesicht und wartete darauf, dass er weitersprach. Caffery seufzte. »Sie wollte Kinder. Je dringender sie es verlangte, desto weniger konnte ich es. Irgendwann wurde unser Leben zu einem Druckkessel, und ehe wir’s uns versahen…« Er klatschte in die Hände, und der Luftzug ließ die Flammen flackern. »Hey.« Er ließ die 

    Hände sinken und lächelte. »Wahrscheinlich habe ich sie nicht genug geliebt. Aber ganz gleich, was passierte, ich konnte es nicht, ich konnte einfach kein Kind bekommen. Nicht nach allem, was ich gesehen habe. Was Kindern passiert.«
    Es war still. Die Lichter eines Flugzeugs vom Flughafen Bristol erschienen über dem Horizont und blinkten kalt und lautlos. Beide starrten darauf, und vielleicht taten beide so, als dächten sie nicht an das Wort »Kinder« und an die unterschiedlichen Bedeutungen, die es für sie hatte. Wenn Rebecca davon sprach, Kinder zu bekommen, hatte sie immer nur »das K-Wort« gesagt, denn sie wusste, für Caffery war es eins der heikelsten Worte, die sie in den Mund nehmen konnte. Ohne ein Kind, erklärte sie, sei die Energie, die er ins Leben stecke, verschwendet. Zum Fenster hinausgeworfen. Als er sie fragte, was sie damit meine, antwortete sie: »Die Energie, die du darauf verwendest herauszufinden, was mit Ewan passiert ist – die gleiche Energie, die du auch in deinen Job steckst bedeutet nichts. Absolut nichts. Sie geht nirgendwo hin, und sie erschafft nichts.« Was komisch war, denn er hatte seinen Job und das Suchen nach einer Antwort nie als Energieverschwendung empfunden. Aber immer wenn er an ein Kind dachte, an eine Familie, konnte er sich dabei nur etwas Unzusammenhängendes, Ätherisches vorstellen, etwas, das sich innerhalb von einer Sekunde auflösen konnte. Als wollte man Nebel mit den bloßen Händen festhalten.
    Nach einer Weile rappelte sich der Walking Man mühsam hoch. Er holte Blechteller aus seinem Versteck unter der Hecke und brachte sie ans Feuer. Mit einem Stock angelte er die Konserven heraus und klemmte eine zwischen die Füße, um den Deckel mit einem Schweizer Messer zu öffnen. »Wir können gleich essen.« Schweiß trat ihm auf die Stirn. »Wir werden essen. Und dann reden wir weiter.«
    Caffery hielt seine Flasche mit beiden Händen fest und sah zu ihm auf. Der Mann war nur zehn Jahre älter als er, aber 
    aus einem Grund, der wahrscheinlich mit dem Cider zusammenhing, fühlte es sich so natürlich und beruhigend an, als schaute er zu einem Vater auf. Vielleicht mehr als das. Der Walking Man kippte das Essen auf die Teller, und sie aßen: Rindfleischpastete, kleine Kartoffeln und ein paar Kräuter, die der Walking Man aus einer Tasche hervorzauberte. Caffery wusste nicht, warum es so war – vielleicht lag es an der Kälte, vielleicht auch am Cider –, aber diese Mahlzeit aus verbrannten Blechdosen würde wahrscheinlich die einzige sein, an die er sich noch auf dem Sterbebett erinnerte. Er fuhr mit den Fingern über den Teller und leckte sie ab. Der Walking Man war fertig und sah ihn an. »Tja, Jack Caffery«, sagte er, »eine Frau haben Sie

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