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Ritualmord

Titel: Ritualmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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eigentlich hätten? Kapierten sie nicht, dass Klienten vertraulich behandelt wurden? Die 

    Ehrenamtlichen waren manchmal ein bisschen umgänglicher als die Offiziellen, nicht so borniert, aber auch sie rückten keine Gratisinformationen heraus.
    »Haben Sie nicht manchmal die Schnauze voll?«, fragte Caffery, als Tig ihm einen Becher Tee reichte. »Haben Sie nicht manchmal Lust, denen zu sagen, sie sollen abhauen und sich selber um ihr Leben kümmern?«
    Tig lachte kurz. Er streifte die Ärmel seines Sweatshirts hoch, setzte sich und schlug die Beine übereinander, sodass der Fuß auf dem anderen Knie lag. Er balancierte den Teebecher auf dem Knöchel. »Hören Sie, Mann, ich kenne die Polizei. In Wirklichkeit ist es Ihnen scheißegal, wie ich zu meinen Klienten stehe. Deshalb sind Sie nicht hier. Also, weshalb sind Sie gekommen? Was wollen Sie von mir wissen?«
    Caffery antwortete nicht sofort, sondern betrachtete Tigs Augen. Das kranke sah irgendwie grau und verschleiert aus – ein bisschen wie ein beschissener Tag in London. Einen Augenblick lang war Caffery desorientiert, konnte diesen Typen überhaupt nicht mehr einschätzen. Er drehte Mossys Foto um und hielt es ihm hin.
    »Kennen Sie den?«
    Tig ließ sich Zeit. Er stellte gelassen seinen Becher auf den Tisch und drehte den Henkel zur Seite. Dann nahm er den Fuß vom Knie, stellte beide Füße auf den Boden, stützte die Hände auf die Schenkel und stand auf, um das Foto in die Hand zu nehmen. Als er es betrachtete, glaubte Caffery eine kurze Kontraktion der Muskeln an den Augenwinkeln zu erkennen, eine winzig kleine Veränderung. Er ahnte plötzlich, dass Tig schon gewusst hatte, wessen Bild er sehen würde.
    »Nein.« Tig hielt das Bild ins Licht und blinzelte. »Nein, tut mir leid, Mann. Nie gesehen.«
    Er hielt Caffery das Foto hin, aber der nahm es nicht, sondern musterte weiter Tigs Gesicht. »Sie sind sicher, dass Sie ihn nicht kennen?« 

    »Hundertprozentig. Noch nie im Leben gesehen. Hier, nehmen Sie’s wieder.«
    Caffery wartete noch einen Moment ab. Er versuchte, hinter das wolkige Auge dieses Typen zu blicken, ein Flackern zu sehen, vielleicht nur ein Weiten der Pupille, irgendetwas, das ihm verriet, dass der Mann log. Aber da war nichts. Nur dieser merkwürdige Gleichmut, den er nicht deuten konnte.
    Schließlich griff er nach dem Foto und steckte es in seine Mappe. Er ließ die Hand darauf liegen und dachte an die nächste Frage, die er stellen musste. Und weil ihm diese Frage zuwider war und er wusste, wohin sie führen würde, dachte er eine Zeit lang an die Mädchen in der City Road und an das, was er jetzt tun könnte, statt hier zu sitzen. Was er tun könnte, um zu vergessen. Bei diesem Gedanken hätte er am liebsten wieder geseufzt. Er nahm die Hand von der Mappe.
    »Ihre Klienten«, sagte er. »Glauben Sie, einer von denen würde ihn erkennen? Vielleicht könnte einer meiner Leute herkommen und sich mit ihnen unterhalten.«
    Tig schnaubte, und sein Blick war der, den Caffery aus all den Jahren kannte, in denen er genau das Gleiche in South- East London getan hatte. »Ich brauche Ihnen ja wohl nichts über meine Schweigepflicht zu erzählen. Sie ist das Rückgrat des ganzen Unternehmens. Wir wären ruiniert, wenn wir rumlaufen und alle fünf Minuten einen Polizisten umarmen wollten.«
    »Ja, das weiß ich. Aber…« Caffery sprach langsam und schleppend und studierte dabei seine Handrücken, als interessierte er sich für sie mehr als für die Worte, die aus seinem Mund kamen. »Aber wissen Sie, was ich mir gerade vorstelle?«
    »Was denn?«
    »Ich stelle mir Ihre Zukunft vor, Tig. Ich stelle mir Ihre Zukunft vor und all die Schritte, die Sie unternehmen können, um sie zu ändern. Und außerdem stelle ich mir die Leute vor, 
    die jetzt da draußen unterwegs sind, die Leute, denen in der Zukunft das Gleiche passieren könnte. Die Opfer, die noch keine Opfer sind…« Diese Worte ließ er im Raum stehen – die Opfer, die noch keine Opfer sind –, um ihre Implikationen ein Weilchen sacken zu lassen. Es war das beste Druckmittel, das er hatte: Er verlagerte die Verantwortung von der Polizei auf den Befragten. »Vielleicht ist es sogar jemand, an dem Ihnen was liegt. Ich stelle mir diese Leute vor, und ich stelle mir vor, wie sie glücklich dahinleben, vielleicht mit einem Haus, einer Familie. Und dann sehe ich das Gegenteil. Ich sehe sie ermordet. Verstümmelt. Die Hände abgeschnitten. Mit einer Säge. Mit einer gewöhnlichen

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