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Ritualmord

Titel: Ritualmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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Extremtauchsportsucht. Sie hatte begonnen, lange bevor die Kinder kamen, so lange, dass Flea nicht wusste, wie sie entstanden war. Aber eins wusste sie: Es war Dads Idee. Mum hatte mitgemacht, auch eine Art Begeisterung dafür entwickelt, aber Dad war der Süchtige, der schicksalhaft Verstrickte, Dad, der in seinen stillen Augenblicken im Arbeitszimmer träumte, er befinde sich in der Tiefe.
    In Bushman’s Hole hatte er eine Videokamera auf dem Helm 
    montiert gehabt. Er musste seinen Abstieg und seinen eigenen Tod gefilmt haben. Aber die südafrikanischen Ermittler hatten die Leichen und die Kamera nie gefunden, und da Thoms bruchstückhafte Erinnerungen das Einzige waren, woran sie sich halten konnten, blieb ihnen kaum etwas anderes übrig, als den Tod der Marleys entweder der »Narkose« infolge einer Fehlberechnung der Tieftauch-Gasmischung oder möglicherweise einem hyperoxischen Blackout zuzuschreiben. Der britische Leichenbeschauer, der vom Innenministerium die Genehmigung zur Feststellung der Todesursache ohne die Leichen erhalten hatte, schloss eine Narkose aus – die desorientierende, euphorische Wirkung des Stickstoffs bei zu hohem Druck. Weil die Trimix-Gasmischung, die die Marleys benutzt hatten, speziell dazu gedacht war, die Narkose zu verhindern, vermutete der Leichenbeschauer stattdessen, David Marley habe angefangen zu schnell und zu tief zu atmen, wodurch er den empfindlichen Kohlendioxidrezeptor in seinem Hals ausgeschaltet und dadurch das Bewusstsein verloren habe. Als er begonnen hatte zu sinken, hatte Jill versucht, ihn zu halten – so viel wussten sie –, und vielleicht habe sie bei diesem schnellen Abstieg den Atem angehalten, was den Sauerstoffsensor des Trimix-Systems veranlasst habe, zu viel Sauerstoff zu liefern. Letzten Endes sei sie genauso gestorben wie David: an Hyperoxie, an zu viel Sauerstoff.
    Er war ein guter Mann gewesen, dieser Rechtsmediziner, und in seiner Zusammenfassung hatte er hinzugefügt, dass Thom, der Sohn der Marleys, richtig gehandelt habe, als er sie gehen ließ. So schwer es auch falle, es sei eine der wichtigsten Regeln beim technischen Tauchen, und er habe sich daran gehalten. Man müsse ihn dafür loben, und er könne stolz sein. Aber natürlich machte es ihm zu schaffen. Er hatte seine Eltern sterben lassen.
    Flea wusste nicht, was ihr die größeren Schuldgefühle bereitete: dass sie nicht mit Thom in Bushman’s Hole gewesen war, 
    als es passierte, oder dass sie im tiefsten Innern froh gewesen war, dass Thom den Trip nach Danielskuil mitgemacht hatte. Immer war sie es gewesen, die von ihrem Dad angetrieben wurde, immer hatte er sie angefeuert: »Siehst du den Baum da? Den großen? Ich wette, du kannst raufklettern, Flea Marley!« Ihr war nie eingefallen, Nein zu sagen; sie hatte es immer getan, denn irgendwo in ihrem Herzen wusste sie, wenn sie es nicht täte, wäre das ein Zeichen dafür, dass sie anders war. Irgendwie schwach. Keine echte Marley. Aber dann war Thom gekommen, ein schüchterner kleiner Junge, der erst mit fast zwei Jahren laufen lernte, und Dads Aufmerksamkeit verlagerte sich von ihr auf Thom. Dads Botschaft war klar: Zeige niemals Angst. In dieser Familie ist kein Platz für Feigheit. Es wurde zu einer Art Instinkt, einem Instinkt, der Thom Jahre später dazu gebracht hatte, mit seinen Eltern in das kalte, starre Auge von Boesmansgat zu steigen.
    Nachdem seine Eltern verschwunden waren, hatte Thom sechs Stunden mit dem Aufsteigen verbracht. Alle paar Meter hatte er haltmachen müssen, um zu dekomprimieren, damit die konzentrierten Gase sich ausdehnen und seinen Körper verlassen konnten, denn das Helium lagerte sich nicht wie Stickstoff im weichen Gewebe, sondern in den Knochenhohlräumen ab und brauchte deshalb länger, um zu entweichen. Tränen füllten seine Maske, und in seinem Innenohr hatte sich eine Heliumblase gebildet, die Schwindel verursachte. Einer der Polizeitaucher, die auf den Alarm hin erschienen waren, musste ihn mit einem Karabinerhaken am D-Ring sichern und bei ihm bleiben, weil er das Gefühl in seinen Händen verloren hatte und nicht mehr wusste, wo oben und unten war. Die letzten zehn Meter waren die schlimmsten, die gefährlichsten und die frustrierendsten, weil jeder Stopp mehr als eine Stunde dauerte: Er konnte die Oberfläche sehen, die Sonne, die hereinschien, aber er musste warten, musste dort in der Kälte verharren, und konnte doch nur an eines denken: an sein Versa- 
    gen und, schlimmer noch, an das,

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