Ritus
Nach einigen Minuten sahen er und Pierre auf der Haut nicht mehr als eine blasse rosa Linie.
»Bleib bei ihm und beruhige ihn, wenn er aufwacht«, sagte Jean zu seinem Jüngsten. »Erkläre ihm, was geschehen ist und dass er sein Leben Malesky verdankt.«
Pierre war nicht einverstanden. »Aber ich muss erfahren, was sich in der Kapelle zutrug!«, begehrte er auf.
»Florence geht es gut, du hast es doch gehört.« Jean stieg die Leiter hinauf. »Bleib bei ihm«, schärfte er ihm ein, ließ die Klappe zufallen und schob nach kurzem Zögern den Riegel vor. Sie müssen beide eingesperrt bleiben. Ich kann es ihnen nicht mehr erlauben, überhaupt noch frei umherzustreifen. Sie werden in diesem Verschlag sitzen, bis die Bestie tot ist, beschloss er voller Mitleid für sein eigen Fleisch und Blut. Aber die Gefahr für die gesamte Region war zu groß.
Malesky hatte es sich in der schlichten Hütte bequem gemacht, seinen Mantel abgelegt und Kaffee aufgebrüht. Es roch verführerisch nach dem teuren, exotischen Getränk. »Woher habt Ihr …«
»Ich bin niemals ohne eine kleine Ration davon unterwegs«, meinte der Moldawier lächelnd. »Wenn man in einem Land groß wird, das von den Osmanen beherrscht wird, kommt man früher oder später in den Genuss und wird süchtig danach.« Er goss dem Wildhüter von der schwarzen Brühe ein. »Gebt auf den Satz am Boden Acht, er schmeckt nicht.«
Jean setzte sich. »Wie lange wusstet Ihr schon, dass Antoine ein Loup-Garou ist?«
»Ich wusste es erst, als ich ihm in der Kapelle von Saint Grégoire gegenüberstand. Vorher … vorher ahnte ich es lediglich.«
»Und wie kommt es, dass Ihr sofort wusstet, was sich im Gevaudan herumtreibt?« Der Wildhüter kostete von dem bitteren Trunk und suchte nach Honig, um ihn zu versüßen. »Was sollte das Gerede von der Hyäne?«
»Offensichtlich reden wir nun endlich offen mit einander«, sagte Malesky mit einem grimmigen Lächeln. »Ihr müsst wissen, Monsieur Chastel, ich stehe dem Wesen nicht zum ersten Mal gegenüber. Ich habe in meinem Leben schon zweiundzwanzig Vukodlaks, wie man sie bei uns zu Hause nennt, erlegt. Zehn davon in meiner Heimat, die anderen im restlichen Europa. Aber diese besondere Spezies eines Wandelwesens, wie sie im Gevaudan haust, ist wahrlich einzigartig.« Er nippte an seinem Kaffee, gab ein wohliges Seufzen von sich und inhalierte die heißen Dämpfe. »Eigentlich verfolgte ich ein Männchen. Ich hatte es schon mindestens viermal gestellt, aber es entzog sich immer im letzten Augenblick. Es sieht nicht aus wie ein gewöhnlicher Werwolf. Es hat das Aussehen verschiedener Bestien in sich vereint, ist Hyäne, Wolf und Großkatze gleichermaßen, und nur der Teufel weiß, wie das vonstatten ging.« Er schaute über den Rand des beschlagenen Zwickers. »Als ich die erste Nachricht aus dem Süden Frankreichs hörte, wusste ich sofort, gegen was die Menschen antreten.«
»Wir haben die Bestie ins Gevaudan gelockt.« Jean sah den Kadaver des Loup-Garou im Vivarais vor sich. »Ich habe Euer Männchen getötet … nein, Antoine tat es und schoss ihm den Kopf in Stücke. Sein Weibchen griff uns an, setzte den Keim des Bösen in meine Söhne und folgte uns, um unsere Heimat für den Tod seines Gefährten zu strafen.«
»Wenigstens habt Ihr eine der Bestien vernichtet.« Malesky wirkte erleichtert. »Bleibt uns noch eine, denn Eure Söhne zähle ich nicht mit.« Er schwieg einen Moment, schien innerlich Anlauf zu nehmen. »Monsieur Chastel … ich stieß in dieser Nacht auf Antoines Fährte und sah, wie er und das Weibchen sich in ihrer Bestiengestalt paarten. Es kann sein, dass der Same aufgeht und sie sich vermehren. Das bedeutet einen Schrecken, gegen den die Verfolgung der hiesigen Hugenotten harmlos wirken wird.« Er legte die Füße auf die Holzbank. »Ich habe allerdings nicht die leiseste Ahnung, wer das Weibchen ist. Ihr?«
»Nein. Aber ich habe etwas anderes, was ich Euch zeigen will.« Jean spürte, wie der Kaffee ihm neue Energie gab, fühlte sich rege und aufmerksam. Er tastete unter den Tisch, wo er in einer Spalte den klein gefalteten Zettel mit der Rezeptur des Trankes, der seine Söhne von dem Fluch befreien sollte, aufbewahrte, und reichte ihn Malesky. »Was sagt Ihr dazu?«
Der Moldawier lugte durch seine Gläser auf die Abschrift, las die Zeilen sehr aufmerksam und gab das Blatt an den Wildhüter zurück. »Das ist Neuland für mich, Monsieur Chastel. Ich habe die Wesen bislang immer erlegt. Ihr müsst
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