Ritus
Zeit, dass ich Euch die Wahrheit sage, Monsieur Chastel«, sagte sie und schaute ihn lange an. »Ihr … ihr jagt keinen Wolf. Es ist ein Loup-Garou.«
Jean glaubte, in ihren graubraunen Augen schlecht verborgene Gefühle wie Angst und Sorge zu erkennen. Sorge um ihn? Der Argwohn ihr gegenüber schwand innerhalb eines Lidschlags.
Malesky spielte den Ungläubigen. »Ehrwürdige Äbtissin, habt Ihr etwa zu sehr der Tratscherei Eurer Schäfchen gelauscht? Wir sollen tatsächlich einem Fabelwesen hinterherrennen?«
»Es ist gewiss kein Märchen, Monsieur Malesky«, erwiderte sie hart. »Ihr seid nicht von hier. Ihr werdet nicht wissen, dass Frankreich bereits zuvor ein Mittelpunkt der Jagd auf den Loup-Garou war.«
»Ihr meint die mittelalterlichen Wolfsjagden, um den Loup-Garou zu vernichten, wobei tausende harmloser Wölfe ihr Leben verloren? Oder meint Ihr die zahlreichen Prozesse Eurer Kirche wegen Wolfswandlung und Wolfsbannerei gegen die einfachen Menschen, ehrwürdige Äbtissin? Mit Verlaub, das hat nichts mit der Jagd auf Wandelwesen zu tun. Das war pure Verrücktheit.«
»Ihr seid belesener, als ich annehmen konnte«, meinte Gregoria. »Ich versichere Euch, dass es nicht nur einfache Menschen traf. Die Inquisitoren haben laut den Unterlagen von Saint Grégoire auch in der Auvergne, dem Vivarais und dem Gevaudan Jagd auf Loup-Garous gemacht und waren, was ich den Protokollen entnahm, offenbar erfolgreich.« Sie schaute zu Jean. Er sah ihr an, dass es ihr ernst war mit dem, was sie sagte, und es ihr nicht leicht fiel. »Der Herr möge uns davor schützen, dass die Bestien zurückkehren, um sich ein neues Reich zu erschaffen«, flüsterte sie.
»Habt Ihr nicht vielmehr Angst davor, dass ein neuer Inquisitor an die Tür Eures Klosters klopft und Euch samt Eurer Nonnen prüft, wie der gute Richter Pierre de Lancre seinerzeit in Bordeaux?«, merkte Malesky spitz an.
»Lancre?«, fragte Jean. Er war es nicht gewohnt, dass sich andere mit der Äbtissin stritten. »Was hat Bordeaux …«
»Lancre unterstellte besonders den Geistlichen Teufelsbündelei und überführte innerhalb eines Jahres nicht weniger als sechshundert Schuldige.« Malesky beobachtete Gregoria ganz genau. »Monsieur de Lancre berichtet ausführlich von einem Besuch bei einem vierzehnjährigen Hirtenjungen, den man wegen seines offenkundigen Schwachsinns zur Klosterverwahrung verurteilt hatte. Trotz des frommen Verbannungsorts verließ ihn die Lust auf das süße Fleisch junger Mädchen nicht. Er war, so behauptete de Lancre, ein Loup-Garou. Korrigiert mich, wenn ich etwas Falsches sage, ehrwürdige Äbtissin.«
Gregoria sprang erregt auf. »Ich verstehe Eure Andeutung sehr wohl, Monsieur Malesky, und verbitte mir derartige Vorwürfe. Wir haben zwei dieser armen, verwirrten Menschengeschöpfe in unseren Mauern, und sie sind so zahm, dass sie vor einer Mücke erschrecken. Schon gar nicht könnten sie umherlaufen und Menschen anfallen.« Sie wandte sich erneut an Jean. »Messieurs, es ist ein echter Loup-Garou!« Sie nahm ihren Mantel, wühlte in seinen Taschen, bis sie mehrere Stücke Papier gefunden hatte und sie ihm reichte. »Ich habe Euch notiert, was über dieses Wesen bekannt ist und was Ihr gegen es benutzen könnt, um es zu vernichten. Wobei ich mir nicht mehr sicher bin, ob Ihr meine Hilfe benötigt … Monsieur Malesky scheint viel von der Materie zu verstehen.«
»Ich? Nun, ich habe viele Bibliotheken besucht. Es regnete unterwegs oft, so dass ich mich darin unterstellte.«
Gregoria ging nicht auf den Spott des Mannes ein. Jean griff derweil nach dem ersten Zettel. Er berührte dabei zufällig ihre warmen Finger und wollte sie am liebsten umfassen, doch er unterdrückte den Wunsch und beließ es dabei, in ihr Gesicht zu schauen. Sie erwiderte den Blick für einen Moment, dann senkte sie den Kopf.
»Es wird spannend! Ich lerne gerne dazu«, fuhr Malesky fort und machte es sich auf der Eckbank gemütlich. »Monsieur Chastel, wärt Ihr so freundlich, laut vorzulesen? Und lasst die Sachen mit dem Silber weg.« Schon beim ersten Satz bekam Jean Zweifel am Nutzen dessen, was Gregoria aus den Büchern von Saint Grégoire zusammengetragen hatte. »Ein Garou vermag nicht nur Schreckliches, sondern auch Gutes zu tun«, gab er skeptisch wieder. »Man erkennt ihn an den Haaren auf den Handinnenflächen, den zusammengewachsenen Augenbrauen, dem strengen Geruch und der unersättlichen Gier nach Frauen und rohem Fleisch.«
»Letzteres stimmt auf
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