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Ritus

Ritus

Titel: Ritus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz
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Zimmer. Zahlreiche Schläuche steckten in ihr, mit denen rote und farblose Flüssigkeiten in sie hinein oder aus ihr heraus geleitet wurden.
    Er nahm sich die Krankenakte aus der Halterung am Fußende und überflog die Werte. Ihr Körper erholte sich sehr gut von der schweren Bisswunde, die Lymphknoten hatten die Arbeit aufgenommen. Das Gewebe regenerierte sich schneller als bei jeder anderen Patientin.
    Sie war alles andere als tot. Gott oder wer auch immer hatte seine Gebete nicht gehört. Jetzt blieb die schrecklichste aller Aufgaben, die seine Berufung jemals verlangt hatte, an ihm hängen.
     
    Eric zog den Plastikparavant um das Bett herum zu, damit er nicht von den anderen Frauen beobachtet werden konnte, dann nahm er seinen Silberdolch unter dem Klemmbrett hervor.
    Er schlug die Decke zurück. Behutsam setzte er die durch den Bruch abgeschrägte Spitze schräg auf der linken Brust an und schnitt dann sanft wenige Millimeter tief in das weiche Fleisch.
    Es zischte leise.
    Eric schloss niedergeschlagen die Augen. Das Silber brachte endgültige Gewissheit: Die Bestie hatte ihren Keim des Bösen in Lena gepflanzt und sie zu einer Lykantrophin gemacht. Sie gehörte nun zum Feind und musste vernichtet werden.
    »Tun Sie es schnell«, sagte Lena unvermittelt und öffnete die Augen. »Ich möchte nicht leiden.«
    Eric schaute sie gequält an. Er bildete sich ein, bereits ein wildes Funkeln in den Pupillen zu erkennen, an dem er ablas, dass das Tier in Lena bereits stärker wurde. Wie Krebs kroch es in jede Zelle, eroberte und veränderte sie. Verschmolz mit ihr. Das Grün ihrer Augen schimmerte heller.
    »Ich weiß es, Eric«, sagte sie gefasst. »Ich … fühle es in mir. Es verändert mich bereits.« Sie schluckte. »Hatten Sie Erfolg?«
    Sie machte ihm nicht einmal Vorwürfe, dass er sie allein im Hotelzimmer zurückgelassen hatte. Er konnte nicht antworten, sondern starrte nur auf ihr hübsches, blasses Gesicht mit den geschwungenen Brauen.
    In diesem Moment begriff er, dass er sie niemals töten konnte.
    Es ging einfach nicht.
    »Los!« Ihre Rechte legte sich auf die Hand mit dem Dolch. »Stoßen Sie zu. Ich will nicht so leben wie die anderen Wandelwesen. Niemand soll durch mich sterben.« Sie schaute ihn flehend an. »Bitte!«
    Eric beugte sich nach vorne und küsste sie auf die Stirn.
    Sie sah ihn vorsichtig an. »War das ein Abschiedskuss?«
    »Nein. Es war … ein Geständnis, das ich einer Frau noch niemals vorher gemacht habe.« Er verstaute den Dolch in einer Tasche des Kittels. Sein Leben war mit einem Schlag kompliziert geworden. Vorher hatte es lediglich aus Gefahren bestanden, die er einschätzen konnte, ohne sich um andere zu sorgen. Doch das alles hatte sich verändert. Wegen Lena.
    Er nahm ihre Hand. »Möchtest du leben?«
    Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Als Mensch. Aber nicht als Bestie«, sagte sie. »Mir bleibt wohl keine Zeit für lange Nachforschungen, um Rezepturen zu finden und sie auszuprobieren. Du hast selbst gesagt, wie sinnlos …«
    »Es gibt vielleicht ein Heilmittel«, unterbrach er sie. »Jedenfalls vermute ich, dass es existiert.«
    Lena richtete sich in ihrem Bett auf. »Eric, was sagst du da?« Glücklicher Unglaube breitete sich auf ihren Zügen aus.
    »Mein Vater besaß ein Röhrchen mit einem eingetrockneten Mittel, das angeblich gegen den Biss des Werwolfs helfen soll«, offenbarte er. »Es stammt aus dem achtzehnten Jahrhundert. Die Substanz an sich ist lange nicht mehr zu gebrauchen, aber ich kann sie analysieren lassen.«
    »Ich dachte, es sei alles verbrannt?«
    »Nein. Nicht alles.«
    Lena schlug die Hände vors Gesicht. Noch nie hatte sie sich so sehr gefreut, angelogen worden zu sein. »Es gibt Rettung«, kam es undeutlich zwischen den Fingern hervor. »Es dauert ein halbes Jahr, bevor ich verloren bin, richtig?«
    Er nickte langsam und lächelte schief.
    Lena zog sich nacheinander die Infusionsnadeln aus dem Körper und wischte sich Tränen von den Wangen. »Dann los. Die Analyse überlässt du mir. Ich kenne einen Arzt, dem ich vertraue. Wenn wir …«
    Er hielt sie fest und küsste sie auf die Lippen.
    Dieses Mal erwiderte sie die Zärtlichkeit mit voller Inbrunst; die Gewissheit, seinem Silberdolch entkommen zu sein und geheilt zu werden, machte sie euphorisch. Sie schmeckte und roch plötzlich nach Lust, und auch er fühlte Verlangen, dem er aber nicht nachgab. Nicht in einem Krankenhaus mit einem Polizisten vor der Tür und acht Ohren um sie herum.

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