Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ritus

Ritus

Titel: Ritus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz
Vom Netzwerk:
Wirtsfrau, die bessere Kleidung trug als die vier Bäuerinnen, die sich ebenfalls im Arbeitsraum der Näherei aufhielten. Sie übergab Gregoria das Bündel und wartete, dass sie ein Lob und eine Segnung für ihre gute Tat erhielt.
    Diesen Wunsch erfüllte ihr die Äbtissin gerne. Sie schlug das Kreuz. »Der Herr findet Wohlgefallen an Euren Taten, er wird sich Eurer erinnern, wenn Ihr vor seinem Richterstuhl steht.« Die Frau kniete nieder, und die Äbtissin legte eine Hand auf ihren gebeugten Schopf. »Gehet hin in Frieden, der Segen des Herrn sei allezeit mit Euch, er geleite und behüte Euch.«
    »Auch vor der Bestie?«, fragte die Frau zögerlich. »Bitte, segnet mich noch gegen die Bestie.«
    Die Bäuerinnen, die ungeduldig warteten, bis sie an der Reihe waren, wechselten bedeutungsvolle Blicke, steckten die Köpfe zusammen und tuschelten. Es wagte schon lange keine mehr von ihnen, laut über das Wesen zu sprechen, das vom König zwar für tot erklärt worden war, sich aber nicht um die Verlautbarung der Majestät scherte.
    »Sie ist erschossen worden. Du kannst …«
    »Bitte, ehrwürdige Äbtissin«, beharrte die Frau und griff verlangend nach dem Saum der Tunika. »Gebt mir den Schutz des Allmächtigen gegen den Boten des Teufels.« Die resignierende Gregoria segnete sie gegen die Bestie, erst dann stand die Bittstellerin zufrieden und erleichtert auf. »Danke, ehrwürdige Äbtissin.« Sie fuhr wie zum Abschied über den Stapel Kleider, den sie Saint Grégoire vermacht hatte. »Mögen sie dem neuen Besitzer mehr Glück bescheren.«
    »Wie meint Ihr das?«, erkundigte sich Gregoria.
    »Ich denke, dass der arme Mann von … von ihr gefressen wurde. Von der Bestie«, sagte die Wirtsfrau und schaute zu den Bäuerinnen. »Er kam genau zu der Zeit in unser Haus, als die Bestie zum ersten Mal auftauchte. Er kehrte eines Tages nicht mehr auf sein Zimmer zurück, ließ alles stehen und liegen. Nun sollen seine Sachen einer anderen armen Seele zugute kommen.«
    Gregoria runzelte die Stirn. »Es hat niemand nach ihm gefragt?«
    Die Frau zuckte mit den Achseln. »Nein. Er sah aus wie ein fahrender Schreiber oder einer von den umherreisenden Gelehrten, die ihre Dienste den Seigneurs anbieten.« Sie verneigte sich in Richtung des Holzkreuzes an der Seitenwand und ging hinaus. Die ruhelosen Bäuerinnen stellten eilig ihre Gaben für das Kloster ab und folgten ihr, denn wer mit dem Segen des Herrn gegen die Bestie ausgestattet war, dem wich man besser nicht von der Seite.
    »Geht hin in Frieden!« Gregoria legte die Hände in den Schoß. Ihr war es recht, dass sie für heute keine Segen mehr zu spenden hatte und die Bäuerinnen ausnahmsweise darauf verzichteten. Es war ein harter Tag auf dem Feld gewesen – sie hatten Ranken gerodet, was viel Kraft kostete –, und sie sehnte sich nach etwas Ruhe.
    Die Kleider des unbekannten Verschwundenen weckten allerdings trotz aller Müdigkeit, die in ihren Armen und Beinen steckte, ihre Neugier. Sie faltete die einfache Hose auseinander, prüfte mit den Fingern die Qualität des Stoffs und die Verarbeitung. Dann griff sie nach dem robusten Gehrock, den Hemden und Strümpfen. Sie alle stammten aus einer meisterlichen Werkstatt. Das sprach für die Vermutung der Wirtsfrau, dass es kein mittelloser Mann gewesen sein konnte, der in den Wäldern des Gevaudan verschwunden war. Doch warum sollte sich ein solcher mit betont schlichten Schnitten zufrieden geben und in einer einfachen Herberge absteigen, statt sich eine standesgemäße Unterkunft zu nehmen?
    Es klopfte. Gregoria zuckte zusammen.
    »Verzeiht, ehrwürdige Äbtissin«, sagte eine Frau in einem dunkelroten Kleid, das eher in eine große Stadt als in die ärmliche Gegend des Gevaudan gepasst hätte. Sie hatte den Oberkörper halb durch den Türrahmen geneigt und spähte in die Werkstatt. Ihr Haar trug sie unter einer Haube verborgen, dem Ansatz auf ihrer Stirn nach war es schwarz. »Man sagte mir an der Pforte, ich fände Euch hier. Verzeiht mein Eindringen.«
    Gregoria kannte sie nicht, aber ihr Gesicht ähnelte jemandem frappierend, den sie vom Kind zur jungen Frau hatte erblühen sehen. Die Frau sah aus wie Florence, wenn diese etwas über dreißig Jahre alt wäre! Verblüfft legte sie die Kleidung auf den Tisch. »Wie kann ich Euch helfen?«
    »Mein Name ist Louise Dumont«, sagte sie, trat ein und verneigte sich. Sie zog einen Beutel aus ihrer Tasche hervor und legte ihn auf den Tisch; es klirrte. »Ich bin hier, um die

Weitere Kostenlose Bücher