Ritus
Pierre«, vernahm sie die bekannte Stimme ihres Geliebten. Endlich gelang es ihr, den Schleier vor ihren Augen wegzuwischen.
Es stimmte. Ihr Geliebter hielt sich eine Stichwunde an der Seite, die zweite im Oberschenkel beachtete er nicht, sie war weniger gefährlich. »Pierre?«, rief sie erleichtert und senkte das Stilett betroffen. »Pierre! Mein Gott, ich habe dich verletzt! Wo kommst du her?« Sie sah, dass sein blutverschmiertes Hemd geöffnet war, Hose und Rock, ebenfalls gefärbt vom Blut, saßen schief an ihm. Es konnte unmöglich sein eigenes sein. Er machte auf sie einen abwesenden Eindruck, als sei er eben erst aus einem tiefen Traum erwacht.
Es ist das Blut des Jungen!
Florence wich vor ihm zurück. »Halt! Bleib, wo du bist!«, verlangte sie; ihre Stimme überschlug sich. »Wie kommt das Blut an deine Kleider?«
»Bitte, Florence!« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann nichts dafür.«
»Du kannst nichts dafür?« Sie wurde aschfahl. »Beim Herrgott und allen Heiligen, Pierre! Bist … bist du die Bestie?« Sie wankte, ihre Füße bewegten sich rückwärts und weg von dem Mann, den sie liebte und mit einem Mal fürchtete. Die Hitze in ihrem Inneren nahm zu, die Umgebung begann immer mehr, vor ihren brennenden Augen zu verschwimmen.
»Es ist ein Fluch!« Er trat unbeholfen vor, streckte flehentlich die Hand nach ihr aus. Florence sah die Bewegung undeutlich und missverstand sie. Die Schneide stieß nach vorne und schnitt tief in seine Hand. Aufschreiend zog er sie zurück.
»Pierre! Es …« Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Und vor allem hatte sie nicht so fest zustechen wollen. Ihr Blick klärte sich ein wenig.
Hinter der Frau raschelte der Ginster, und Antoine brach stolpernd daraus hervor. Seine schwarzen Haare fielen ihm nass geschwitzt ins Gesicht, seine Muskete zerrte er am Lauf achtlos hinter sich her, und er stank nach Branntwein. Seine Kleidung hing unordentlich an ihm – und war nicht weniger blutbesudelt als die seines Bruders.
Er lachte, als er die beiden sah. »Oh, die kleine Nonne und mein Brüderlein«, lallte er. Die grünen Augen richteten sich auf Florence, fixierten sie jedoch nicht mehr richtig – die Wirkung des Alkohols verhinderte es –, dann hob er den Fuß, an dem das Blut des Knaben knöchelhoch haftete. »Schaut, in was ich getreten bin. Was für eine Schweinerei! Du hast den armen Kerl völlig aufgefressen!«, grölte er und lachte abstoßend.
»Ihr seid die Bestien, ihr beide!« Florence schrie und weinte gleichzeitig, hielt das Stilett zuerst gegen Pierre, der versuchte, die Wunde in seiner Hand mit seinem Schal zu verbinden, dann gegen Antoine. Heißes Blei rauschte durch ihre Adern, ihr Kopf schmerzte. Sie fürchtete, den Verstand zu verlieren und kämpfte mit aller Macht dagegen an.
»Ich?« Antoine versuchte empört, sich aufrecht hinzustellen, und legte eine Hand gegen die Brust. »Ich bin saufen gewesen und in diesen Tümpel gestürzt, und als ich losging, um Hilfe zu holen, hörte ich dein Gezeter.« Er machte einen Schritt auf sie zu, sie stach zu und traf seinen Oberarm. Sofort zischte es, es stank nach Verbranntem, und er brüllte auf. »Du Verrückte!« Umständlich hob er die Muskete und versuchte, sie feuerbereit zu machen, aber die glitschigen Finger rutschten am Hahn ab. »Ich werde dich umlegen, heilige Möse, und dann treibe ich es mit dir, wie ich es in der Kapelle tun wollte, und wäre nicht dieser …«
Pierre hechtete gegen seinen Bruder und schleuderte ihn in den Ginster. Beide verschwanden zwischen den dichten grünen Zweigen. Aus dem Lachen Antoines wurde ein grausames Knurren, der Busch wackelte heftig.
Gott, steh mir bei! Die Angst und der Schrecken waren übermächtig, die Instinkte übernahmen vollends die Kontrolle. Florence wandte sich um und lief, wie sie noch niemals in ihrem Leben gelaufen war. Sie flog über das unebene Grasland, stürzte mehrmals und kämpfte sich von Neuem auf die Beine, zerriss sich dabei das Kleid und vernahm das boshafte Geheul der Bestie ständig in ihrem Rücken.
Die junge Frau lief in der Trance einer übermächtigen, Verstand auslöschenden Angst. Sie sah ihre Umgebung bald nicht mehr, die zu fleckigem Grün unter ihr und Dunkelblau über ihr verschwamm, während sie die Beine mechanisch auf und ab bewegte und nichts mehr hörte außer dem eigenen Atmen. Und dem schrecklichen Geheul der Bestie, das sie umgab.
»Wir brauchen die Sachen nicht mehr. Gebt sie den Bedürftigen«, sagte die
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