Ritus
denn sie durchschaute die Äbtissin sehr wohl. Ich wette, dass sie sich in Jean Chastel verliebt hat.
Zum ersten Mal hatte Florence diese verbotenen Gefühle erkannt, als die Äbtissin von einer angeblich zufälligen Begegnung mit dem Wildhüter sprach. Die Haltung, die Augen, alles an Gregoria verriet sie, jedenfalls nach Florences Empfinden. Die junge Frau erahnte vieles, was die Menschen betraf, die sie umgaben. Es war eine besondere Gabe. Und es war nicht so, dass Gregoria nichts von der Anziehungskraft zwischen Mann und Frau wusste; sie war eine wohlhabende Comtesse gewesen und erst mit zwanzig Jahren in den Orden eingetreten, nachdem ihr Mann jung gestorben war. Zumindest hatte sie das ihrem Mündel vor langer Zeit in einem ihrer wenigen schwachen Momente anvertraut. Die anderen Nonnen ahnten wohl nichts davon. Ihnen sagten daher auch die geheimen Anzeichen nichts. Nur Florence, selbst glückliches Opfer einer tiefen Liebe, wusste sie sehr wohl zu deuten.
Wie schade, dass es eine verbotene Liebe bleiben wird. Sie passen so gut zueinander. Die junge Frau stand auf. Es wurde Zeit, dass sie sich über die felsendurchzogenen Wiesen auf den Rückweg machte, um rechtzeitig zum Abendbrot im Kloster zu sein.
Sie spürte Dankbarkeit, dass sie von den Nonnen aufgezogen worden war. Gedanken über ihre unbekannten, ohne Zweifel reichen Eltern hatte sie sich niemals gemacht. Gregoria betrachtete sie eher als Mutter denn als Vormund. Und doch, bei aller Geborgenheit, die sie im Kloster empfand, freute sie sich auf den Tag, an dem sie Saint Grégoire für immer hinter sich lassen würde.
Lange bin ich nicht mehr dort. Ich werde mit Pierre fortgehen, an einen anderen Ort in Frankreich, an dem es keine Bestie gibt. Er wird der beste Wildhüter des Königreichs sein, und ich werde eine Anstellung als Lehrerin suchen.
Sie schüttelte sich das Laub vom Mantel, ging durch das hohe Heidekraut, bog die Zweige eines mannsgroßen Ginsterbusches zurück und schritt hindurch. Ihr linker Fuß trat platschend in eine Pfütze, Wasser spritzte hoch und durchnässte ihren Mantel, die Stiefel sowie das Unterkleid.
»Oh, wie …« Sie blieb stehen, um nach dem Ausmaß der Verunreinigung zu schauen – und schlug eine Hand vor den Mund, um den Schrei aufzuhalten, der mit Macht ihrer Kehle entfliehen wollte. Sie war nicht in eine Pfütze getreten.
Es war ein flacher Pfuhl aus frischem, dampfendem Blut, in dem die Leiche eines Jungen lag.
Florence erkannte die Zeichen sofort und wusste, wer der Mörder war, der dem unglückseligen Knaben die Gesichtsknochen zermalmt und die Haut abgezogen hatte. Statt der Bauchdecke sah sie ein großes, nasses Loch, in dem es rot und grünlich schimmerte. Die Innereien fehlten.
Die Bestie hatte ihrem Opfer zusätzlich das Fleisch von den Unterarmen geschält. Der Junge musste in seiner Verzweiflung versucht haben, sich zu wehren, aber gegen einen derartigen Gegner versagten selbst schlachtenerprobte Soldaten.
»Gütiger Herrgott, bewahre mich vor …« Florence schaffte es noch, ein Kreuz zu schlagen, danach übergab sie sich auf die Leiche, zu schnell stieg ihr der Brei in den Hals. Sie keuchte, wankte, stürzte halb zurück in den Ginster – und wurde von zwei starken Armen aufgefangen.
Florence schrie. Gleichzeitig übernahm eine andere Kraft ihren Körper. Sie sah sich selbst ihr Stilett mit der Silberklinge ziehen, das sie von der Äbtissin vor anderthalb Jahren geschenkt bekommen hatte, und stach blind hinter sich. Die Klinge traf auf Widerstand, und ein Mann fluchte laut, ließ sie aber nicht fallen.
»Weiche, Loup-Garou!«, schrie sie wie eine Furie. »Das Silber bringt dir den Tod!« Wieder traf sie ihren unsichtbaren Gegner, der sie jetzt endlich freigab. Die junge Frau landete in der Blutlache. Voller Entsetzen warf sie sich herum, versuchte, auf die Beine zu kommen, wühlte dabei den Pfuhl auf; das Blut und der Dreck flogen ihr ins Gesicht und nahmen ihr die Sicht.
Halb blind reckte sie das Stilett vor sich und hielt den Griff mit beiden Händen umschlungen. Sie kämpfte sich auf die Beine, wandte sich um und rannte. Eine heiße Woge rollte durch ihren Leib, beflügelte sie und verlieh ihr ungeahnte Schnelligkeit. Die Angst und die Anstrengung hätten ihr bald den Atem rauben sollen, aber sie lief immer weiter und versuchte dabei ungelenk, sich mit dem Oberarm die brennenden Augen zu reiben.
Vor ihr erhob sich unvermittelt ein aufrecht stehender Schatten.
»Florence, ich bin es!
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