Ritus
»Nein, du wirst warten, bis ich dich abhole. Sollten sie dich vorher entlassen, warte im Hotel Lobodan auf mich«, sagte er. »Was hast du der Polizei erzählt?«
»Dass ein Verrückter mit einer Pistole und einem Hund in mein Zimmer gesprungen sei und du ihn verfolgt hättest.« Lena schenkte ihm ein Lächeln, doch das Reine, das er darin immer gesehen hatte, trübte sich bereits zu etwas Dunklerem. Er bemerkte voller Schrecken, dass ihr auch das Geheimnisvolle sehr, sehr gut stand. »Sie wollten dich suchen.«
Eric atmete auf. »Gut. Ich werde zur Polizeistation gehen und ihnen eine Personenbeschreibung geben, damit sie sich auf die Suche nach jemandem machen können.« Rasch fasste er zusammen, was sich in der Nacht nach dem Überfall im Wald ereignet hatte. Dabei ließ er seine Verwundung aus. Er beugte sich zu ihr herab, küsste sie erneut und berührte ihre nackte Schulter. »Wir sehen uns bald wieder.«
»Ich rufe meinen Bekannten an.« Lena lächelte. »Danke.«
Er gab das Lächeln zurück, dann schlüpfte er durch den Vorhang hinaus und verließ das Zimmer. In einer Toilette streifte er den Kittel ab, durchquerte die Flure und ging direkt aus dem Krankenhaus zur örtlichen Polizeistation, um dem Beamten eine abstruse Story von einem Perversen zu erzählen, der in einem Auto ohne Kennzeichen vor ihm geflohen sei.
Nach vier Stunden Befragung durfte Eric gehen. Seine Sachen, so erfuhr er, lagen im Hotel zur Abholung bereit.
Nach fünf Stunden marschierte er mit seinem Rucksack auf dem Rücken und in Schneetarnkleidung durch den Haupteingang des Krankenhauses.
Und nach fünf Stunden und elf Minuten verließ er zusammen mit Lena das Krankenhaus, um nach Deutschland zu fliegen.
XXV.
KAPITEL
4. März 1766, Ausläufer des Montchauvet, Südfrankreich
Florence atmete tief die frische Luft ein. Sie schmeckte nach Freiheit, nach dem Ende des Winters und dem sich ankündigenden Frühling. Die Natur hielt sich bereit, in voller Farbenpracht aus dem weißen Tod aufzuerstehen. Das Heidekraut zeigte bereits sein Grün und die ersten Blumenknospen erhoben sich durch die Reste des schmelzenden Schnees.
Sie war allein am Montchauvet unterwegs, lief über die menschenleeren Ebenen bis zu den sanft ansteigenden unteren Hängen des Berges und genoss es, nicht die wachsamen, gestrengen Augen der Äbtissin auf sich ruhen zu wissen.
Ende des alten Jahres hätte sie sich ihren heimlichen Ausflug nicht getraut, doch es war viele Wochen lang ruhig geblieben im Gevaudan. Der Winter schien die Bestie in eine Höhle gezwungen zu haben und verhinderte, dass sie Jagd auf Mensch und Tier machte wie in den Monaten davor. Oder aber die Menschen melden den Behörden erst gar nicht mehr, wenn sich ein Mord ereignet oder ihnen ein Stück Vieh gerissen wird, lautete eine beunruhigende weitere Erklärung für den unsicheren Frieden in der Region.
Florence setzte sich unter eine Birke, wo sie einen Flecken trockenes Laub fand, lehnte sich an den Stamm und betrachtete die schroffe Schönheit der vom Granit beherrschten Natur. Ich wünsche mir so sehr, Pierre an meiner Seite zu haben.
Sie machte sich Sorgen um ihren Geliebten. Florence hatte von einem Besucher in Saint Grégoire gehört, dass Jean Chastel nur noch mit dem seltsamen Fremden aus Moldawien auf die Jagd ging. Seine Söhne wurden in Saugues oder anderen Ortschaften kaum mehr gesehen, und fragte man nach ihnen, bekam man vom Wildhüter zur Antwort, sie hätten sich aufgeteilt, um die Bestie zu stellen. Die Bettlerin, mit der sie sich beim Verteilen der Suppe an die Bedürftigen unterhalten hatte, berichtete dagegen zu ihrem Schrecken, dass Chastel Antoine und Pierre an die Kreatur verloren habe. Doch die Äbtissin konnte sie beruhigen. »Gib nichts auf das Gerede«, hatte sie gesagt. »Gott schützt sie bei ihrer Suche.«
Florence schloss die Augen und genoss die Strahlen der Sonne auf ihrem Gesicht. Sie sah Pierres Züge vor sich und bildete sich ein, seine zärtlichen Berührungen auf ihrem Körper zu spüren. Zugleich verfluchte sie die Annäherungen seines Bruders. Zum ersten Mal wünschte sie einem Menschen den Tod. Die verhängnisvolle Nacht war ihr Geheimnis geblieben. Sie würde auch Pierre verschweigen, was Antoine mit ihr zu tun beabsichtigt hatte.
Dass Menschen so verschieden sein können, wunderte sie sich nicht zum ersten Mal. Beide entspringen den Lenden von Jean Chastel, sind aber wie Mond und Sonne. Bei dem Gedanken an den Wildhüter musste sie lächeln,
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