Ritus
rücksichtsloses Vorgehen würde ich eher dem jungen Comte zutrauen als seinem Vater. Er hat den weitaus schlechteren Ruf.«
Gregoria schaute ihn aus großen Augen an. »Der junge Comte? Dann wäre er damals«, sie rechnete kurz nach, »um die sechzehn gewesen, als er Florence gezeugt hätte.«
»Ein Alter, in dem sich ein junger Mann gerne austobt und Gefallen an unterschiedlichen Frauen findet. Dass er ein Adliger ist, hat es ihm vermutlich noch leichter gemacht, in ein Bett zu gelangen.«
»Aber welche Gefahr geht von Florence denn aus, dass man sie deswegen umbringen müsste?« Gregoria drückte Jeans Hand und schien sie nie wieder loslassen zu wollen. In dem Augenblick, in dem sie sich die Frage gestellt hatte, fiel ihr die Antwort von selbst ein. »Es war nicht Florence, sondern der Brief!«
»Ihre Mutter hat etwas über einen der de Morangiès gewusst, egal ob Vater oder Sohn«, sagte Jean. »Dieses Wissen sollte ausgelöscht werden, nehme ich an.«
Gregoria nickte. »Dann ist es gut, dass der Brief gestohlen wurde. Soweit ich weiß, hat Florence ihn noch nicht gelesen. Wer immer ihn nun besitzt, wird das an dem Siegel erkennen und sie in Ruhe lassen.«
»Damit wäre sie außer Gefahr.« Jean schaute zur Tür, hinter der Pierre verschwunden war. Sie war nicht richtig ins Schloss gefallen. Lauschte sein Sohn? »Aber gib die nächsten Wochen besonders auf sie Acht. Es sollte immer eine der Schwestern bei ihr sein. Und lass mich wissen, wenn dir etwas Ungewöhnliches auffällt. Pierre und ich werden zur Stelle sein.«
Sie lächelte und berührte ihn mit ihrer Linken an der Wange. »Ich danke dir von ganzem Herzen, Jean.«
»Wirst du den Comte aufsuchen und ihn zur Rede stellen?«
Gregoria zögerte. »Zuerst wollte ich das. Aber es würde vermutlich mehr zerstören als nützen. Wenn es ruhig bleibt, werde ich an der Vergangenheit nicht rütteln, um Florences willen. Ihr Leben bedeutet mir sehr viel.« Sie erhob sich. »Ich muss wieder zurück.« Sie drückte Jean, der sich erheben wollte, auf den Stuhl. »Nein, begleite mich nicht. Ich finde den Weg zum Kloster auch allein, und es wird mir nichts geschehen.« Sie bückte sich und küsste ihn auf die Stirn, danach eilte sie aus der Hütte.
Jean lauschte auf ihre Schritte, bis sie vom Rauschen der Bäume übertönt wurden. Es gab im Gevaudan offenbar mehr Geheimnisse als nur das der Bestie.
XXIX.
KAPITEL
29. März 1767, Kloster Saint Grégoire, in der Umgebung von Auvers
Florence stand am Fenster ihres Zimmers und schaute über die Klosteranlage, in der bald Ruhe einkehren würde. Die letzten Pilger, die in Saint Grégoire rasteten, sammelten sich im Hof und brachen zu ihrer nächsten Etappe auf dem Weg nach Santiago de Compostela auf. Die Zeit der Besinnlichkeit, des Nachmittaggebets und der Lektüre der Heiligen Schrift nahte.
Ihre Augen hefteten sich auf das Kreuz auf dem Dach der Kirche, und sie faltete die Hände. Heiliger Gregor und Heilige Mutter Gottes, bewahrt mir meinen Pierre vor den Fängen der Bestie und bringt ihn heil in meine Arme zurück, auf dass wir gemeinsam aus dem Gevaudan wegziehen können.
Sie senkte den Kopf und betete still ein Vaterunser nach dem anderen, um Gott dem Allmächtigen zu gefallen. Er hatte ihre Stichwunden ohne Komplikationen verheilen lassen.
Davon hatte sich Pierre überzeugen dürfen, heimlich und lediglich mit raschen Blicken. Für mehr als das und eine sanfte Berührung als Versprechen auf kommende Nächte hatte es nicht ausgereicht. Aber anscheinend hatte er sie mit der Billigung seines Vaters besuchen dürfen. Florence wertete das als gutes Zeichen. Nach diesem schrecklichen Angriff gab es für sie keinerlei Zweifel mehr, das Gevaudan verlassen zu müssen. Trotz der Geheimnisse, die um die Person ihrer vermeintlichen Mutter geblieben waren.
Ihre Gebete endeten, die Gedanken drifteten zu sehr ab. Sie wusste sehr wohl, dass der Mann sie wegen des Briefes hatte ermorden wollen. Gregoria dachte, dass der Brief verloren war. Aber Florence besaß ihn noch. Zumindest einen kleinen Teil davon.
Sie wackelte am Fensterbrett und hob den schweren Sandstein kaum merklich nach oben. Der Spalt war breit genug, dass sie mit der Nadel ihrer Spange hineinfahren und den Fetzen Papier hervorziehen konnte.
Ihre Augen huschten wieder über die bruchstückhaften Satzanfänge, aus denen sie nicht schlau wurde. Der Brief war an einen Charles gerichtet, es wurde von einer Liebesnacht gesprochen. Die Verfasserin – die
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