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Ritus

Ritus

Titel: Ritus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz
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de Beaulieu in der Nähe von Paulhac. Der Chor des Klosters würde unter ihrer Leitung singen und die furchtsamen Menschen mit den Liedern trösten. Denn es war keine Gottesfurcht, welche die Menschen in sich trugen, sondern die blanke Angst vor dem lautlosen, vierbeinigen Tod, der nach ruhigen Monaten plötzlich wieder grausam zuschlug. Wie in den blutigen Jahren 1764 und 1765.
    Die Anwesenheit des undurchsichtigen Francesco änderte an dem Durst der Bestie nichts. Ganz im Gegenteil: Sie fühlte sich offenbar angestachelt, dem Gesandten des Papstes zu zeigen, dass auch er machtlos war. Zehn Opfer in kurzen Abständen, überwiegend kleine Mädchen, verstümmelt, die Eingeweide gefressen, die Gesichter zerbissen und die Haut abgeschält. Jeder erkannte den Ritus der Bestie. Gregoria ahnte, wie alle Menschen im Gevaudan, dass es lediglich der Auftakt für einen schrecklicheren Sommer sein würde.
    Ich bete zu dir, Herr, lass Jean, seine Söhne und den Moldawier die Kreatur endlich finden, damit der Schrecken für uns alle endet.
    Wieder dachte sie an ihn, an ihren Traum, an seinen Körper …
    Die Türe wurde aufgestoßen, und ein kühler Abendwind, der dennoch den Duft des Frühlings und die Feuchtigkeit des Regens mit sich trug, wehte in die Klosterkirche. Äbtissin Gregoria schrak aus ihren Gedanken auf, die sich, dem Ave Maria zum Trotz, wieder in ihren Verstand stehlen wollten.
    »Ehrwürdige Äbtissin, kommt schnell! Monsieur Chastel ist da.«
    »Welcher Chastel?«
    »Jean Chastel, ehrwürdige Äbtissin. Er verlangt nach Euch mit einer Vehemenz, dass ich ihn nicht länger hinzuhalten vermag«, sagte Schwester Magdalena aufgeregt. »Es muss etwas geschehen sein. Er wartet in Eurem Schreibzimmer.«
    Gregoria entfaltete ihre Hände, hängte sich den Rosenkranz um und schaute die Schwester besorgt an. »Wo ist Florence?«
    »Auf ihrem Zimmer, wie Ihr befohlen habt.«
    »Hast du nachgeschaut?«
    »Nein, aber ich sah Licht in ihrem Fenster.«
    »Dann geh und sieh nach!« Die Äbtissin stand auf und eilte zum Ausgang der Kirche. »Lass mich wissen, was Florence macht.«
    Während sie über den Hof durch den heftigen Regen zu ihrem Schreibzimmer lief, beschleunigte sich ihr Herzschlag, und das lag nicht an der ungewohnt schnellen Gangart. Gleich würde sie dem Mann gegenüberstehen, an den sie vor wenigen Augenblicken noch gedacht hatte.
    Unschicklich gedacht hatte.
    Sie schluckte die Aufregung hinunter, flog die Stufen hinauf und öffnete die Tür, vor der wie immer zwei Wachen standen.
    Gregoria hatte ihre Aufpasser beinahe vergessen. Es würde nicht lange dauern, und der Legatus bekäme Nachricht von dem Besucher. Und dass sie sich mit ihm längere Zeit unterhalten hatte. Spätestens dann würde sich die Aufmerksamkeit auf die Familie Chastel richten.
    Jean, der im Zimmer auf und ab gelaufen war, wie die dunkle, feuchte Bahn auf den Dielen ihr verriet, blieb stehen und schaute zu ihr. Die kantigen Züge des Mannes schienen um Jahre gealtert. Mehr als nur Regenwasser lief ihm die Wangen in dicken Tropfen herab, und die Verzweiflung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Schwester Magdalena hatte sich nicht getäuscht. »Jean, lieber Freund, was kann ich …«
    Beinahe zornig kam er auf sie zu, packte ihren linken Oberarm und hielt sie fest, die andere Hand hielt ein zerrissenes Lederband vor ihre Augen. Daran pendelte eine kleine Schwalbe aus Holz, von der ein Teil abgesplittert war.
    »Wie kann ein Gott, der gütig ist, das zulassen?«, schrie er außer sich, und für einen Moment dachte Gregoria, die Faust würde in ihrem Gesicht landen. Seine Augen waren weit aufgerissen und rot vom Weinen, die Wut sprang aus ihnen hervor. »Wo bleibt sein Beistand für die Schwachen?«
    Sie konnte nichts sagen, der harsche Angriff des Mannes überrumpelte sie, und sein Griff schmerzte. »Jean, du …«
    »Marie!« Er brüllte ihr den Namen entgegen. »Marie ist tot. Die kleine Marie Denty, zwölf Jahre lang kenne ich sie, ich habe ihr dieses Band geschenkt und den Vogel geschnitzt, und jetzt ist sie tot!« Seine Stimme schraubte sich höher, kippte und brach. »Pierre, Malesky und ich haben sie gefunden. Die Bestie hat nicht mehr von ihr übrig gelassen als zerkaute Reste.«
    Die Tür öffnete sich und Francescos Männer wollten eintreten, aber Gregoria hielt sie mit einer herrischen Handbewegung davon ab. Ihre stumme Autorität genügte; die Bewaffneten verschwanden wieder.
    Jean schleuderte den Anhänger zu Boden. »Ohne ihn hätten

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