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Ritus

Ritus

Titel: Ritus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz
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wir nicht einmal erahnen können, wen sich der Garou da genommen hat.« Er fuhr sich wie wahnsinnig durch die nassen weißen Haare, sein Blick ging durch die Äbtissin hindurch. »Aber es hat ein Ende. Ich kann ihn nicht länger verschonen«, raunte er. »Er hasst mich und tötet alle, die ich liebe.« Die Augen fixierten das Gesicht der Äbtissin, und er rang mit sich. »Du bist … du bist in Gefahr, Gregoria. Er wird kommen und dich holen, weil er weiß, dass ich …« Jean verlor die Farbe aus dem Gesicht, wankte und sackte auf dem Stuhl zusammen, den sie ihm rasch hinschob. Er stützte die Ellbogen auf die Knie, verbarg sein Gesicht vor ihr und schluchzte. »Ich bin schuld«, hörte sie ihn undeutlich klagen. »Ich hätte ihn töten sollen, als es schlimmer wurde. Er ist ausgebrochen, und wir konnten ihn nicht mehr finden …« Der Rest ging in seinem Weinen unter.
    »Ich verstehe nicht, Jean«, sagte Gregoria behutsam und strich ihm zögernd über den Nacken. Sie erinnerte sich genau an den Markttag, an dem sie ihn mit Marie gesehen hatte. Der Tod des kleinen, freundlichen Mädchens zehrte auch an ihr.
    Jean hob den Kopf, sein Kinn zitterte. »Der Loup-Garou … es ist … Antoine«, brach es aus ihm heraus.
    »Antoine?« Gregorias Gesicht verlor jegliche Farbe, sie schaute alarmiert zur Tür. »Um Himmels willen, Jean«, flüsterte sie bestürzt. »Kein lautes Wort mehr! Die Männer, die vor meinem Zimmer wachen, sind nicht vertrauenswürdig.«
    »Wir wollten ihm helfen und haben es schlimmer gemacht. Antoine …«
    Ihre Hand verharrte auf ihm. »Aber ich dachte … Ich verstehe nicht. Wieso er?«
    Und Jean erzählte. Er erzählte ihr alles, vom ersten Zusammentreffen mit der Bestie vor drei Jahren im Vivarais bis zu der Hoffnung, den Sohn vom Fluch befreien zu können. Die genauen Umstände verschwieg er jedoch. »Sein Leben ist verwirkt.« Er wischte sich die Tränen aus den Augen. Gregoria starrte ihn an. »Der Garou hat Antoine zur Bestie gemacht?« Sie setzte sich, die Blässe wich nicht mehr aus ihrem Antlitz. Er hatte den Eindruck, dass es sie sehr hart traf, die Wahrheit zu hören. Er schien damit etwas zunichte gemacht zu haben.
    »Gregoria … Wirst du es jemandem erzählen?«
    Sie fing sich und lächelte ihn an. »Nein, Jean. Es ist eine Beichte gewesen, und darüber herrscht absolutes Schweigen«, beruhigte sie ihn. »Niemand erfährt etwas von Antoines Geheimnis. Und schon gar nicht Legatus Francesco.«
    »Der, der die Pilger beschützen will?«
    »Ja. Aber er ist ein Jesuit …« Sie stockte, wagte es nicht, noch mehr zu offenbaren.
    Er hob die Augen. »Ich werde das, was einmal mein Sohn gewesen ist, bevor er von der Bestie gebissen wurde, erschießen. Ich und kein anderer. Sobald ich etwas Geld für Silber geborgt habe, werde ich mir daraus Kugeln machen lassen und ihn zur Strecke bringen.« Er rutschte vom Stuhl, nahm Maries Anhänger vom Boden und schob ihn sich unter das Hemd. »Meine Schuld ist unermesslich«, flüsterte er. »Wie konnte ich so verblendet sein?«
    Auch ihre Schuld war unermesslich. Sie sah ihn voller Liebe an, wie er vor ihr kniete, und versuchte sich vorzustellen, wie sich ein Mann fühlte, der den Tod des eigenen Sohnes beschlossen hatte und ihn eigenhändig erschießen musste. »Gott vergibt dir, Jean«, sagte sie leise. »Wie er uns allen vergibt.«
    »Gott hat das alles zugelassen. Er hat mir nichts zu vergeben«, erwiderte er abfällig und strich die weißen Locken nach hinten.
    Gregoria nahm ihren silbernen Rosenkranz ab. »Nimm ihn und fertige daraus Kugeln, damit du ihn stellst, bevor es der Legatus tut.« Sie holte tief Luft. »Ich mache dir keinen Vorwurf, dass du deinen Sohn vor den Jägern geschützt hast und ihn wieder zu einem Menschen machen wollest. Vermutlich hätte ein jeder Vater … oder eine jede Mutter«, sie zauderte und wich seinem Blick aus, »so gehandelt wie du.«
    Jean fuhr mit den Fingern über das Rosarium, der Daumen ruhte auf dem Heiland. »Gott hat mich und meine Familie im Leben mehr als einmal im Stich gelassen«, sprach er bedachtsam. »Ich schwöre bei diesem Kruzifix, dass ich meine Seele dem Bösen hingebe, wenn er es wieder tut.« Er erhob sich. »Nun kann Gott mir beweisen, dass er Anteil nimmt an meinem Leid, oder ich entsage ihm auf alle Zeit.«
    »Nicht!« Gregoria machte einen Schritt vorwärts und legte ihm den Zeigefinger auf die Lippen. »Der Herr lässt sich nicht fordern und versuchen.«
    Es war dieser eine Schritt gewesen,

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