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Ritus

Ritus

Titel: Ritus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz
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gegangen?« Sie schüttelten die Köpfe. »Capitaine Duhamel ist mit siebzehn Reitern und vierzig Fußsoldaten hier, und damit will er unsere Wälder, Ebenen und Berge absuchen? Das ist ein Gebiet von hunderten Quadratmeilen. Das Gevaudan wird ihn auslachen! Es wird ihn mit seinen Nebeln verwirren, in den Wäldern mit falschen Wegen narren, in Sumpflöcher führen, zwischen den Ginsterbüschen und Gestrüppen im Kreis gehen lassen, aber niemals wird es euch gelingen, diesen Wolf zu fangen. Nicht auf diese Weise.« Aufgebracht erhob er sich, ging zum Kamin und warf sich seine Sachen über. »Ihr mögt Kriege führen, aber das hier ist keine Aufgabe für eine Hand voll Branntwein saufender Soldaten. Ihr und eure Treiber, die ihr aus dem Umland zusammentrommelt, werdet die Felder zertrampeln und die dürftige Ernte der Menschen in Gefahr bringen, mehr nicht.« Er warf ein paar Münzen auf den Tisch.
    »Dann fang du die Bestie, Chastel«, rief der Wirt höhnisch. »Oder frag deinen Sohn. Der lebt doch wie ein Wilder. Er wird sie sicherlich verstehen. Vielleicht hat sie was zu ihm oder seinen verdammten Hunden gesagt?«
    »Halt dein Maul«, erwiderte Jean drohend und hilflos zugleich.
    Die Gäste steckten die Köpfe zusammen und tuschelten. Unvermittelt war ein neues Gerücht geboren worden. »Oder hast du etwas mit ihr zu schaffen?«, rief einer. »Du reist in letzter Zeit viel durch die Gegend, erzählt man sich, Chastel.«
    »Erzählt euch, was ihr wollt.« Jean hängte sich die Muskete um, schritt zu Tür und öffnete sie. »Wir werden sehen, wer sie erlegt.« Er wickelte sich den Schal um und zog ihn hoch ins Gesicht, stellte den Lederkragen seines Mantels hoch und stülpte den Dreispitz auf den weißen Schopf, dann ging er hinaus. Der Disput hatte eine zu gefährliche Wendung genommen.
     
    Der Schneesturm hatte nachgelassen, aber die nächtliche Straße Chaulhacs blieb wie ausgestorben. Jean überquerte sie und lehnte sich gegen die raue Granitmauer eines Hauses, um auf seine Söhne zu warten. Zweifel nagten an ihm, und sein Gewissen machte ihm das Leben seit Juni zur Hölle. Denn im Juni war die Bestie in seiner Heimat aufgetaucht.
    In der Nähe von Langogne war eine junge Kuhhirtin von diesem Wesen angefallen worden, aber die Bullen der Herde stellten sich schützend vor sie; die langen Hörner bewahrten die Frau vor einer zweiten, tödlichen Attacke der Bestie, und sie konnte entkommen. Ihre Kleidung war zerrissen und sie trug einige Kratzer davon, aber sie behielt ihr Leben.
    Nach ihrer Beschreibung der Bestie war Jean fest davon überzeugt, dass er und seine Söhne die Kreatur ins Gevaudan gelockt hatten. Es war ein Weibchen, so viel stand fest. Als sie sich – mit Pierre in ihrer Klaue – vor ihm aufgerichtet hatte, gab es nichts zu sehen, was auf ein Männchen schließen ließ. Für Jean war klar: Sie rächte den Tod ihres Gefährten, indem sie die Region heimsuchte, in der die Mörder lebten. Und sie rächte sich fürchterlich.
    Er hatte Angst, dass die Wahrheit durch einen Zufall ans Licht käme: Er und seine Söhne trugen die Schuld an den Toten. Einen ersten Vorgeschmack hatte er eben im Gasthof bekommen. Um Schlimmeres zu verhindern und vor allem nicht den Hass der Menschen auf sich und seine unbeliebten Söhne zu ziehen, blieb ihm nur eins: Jean leugnete den Leuten gegenüber die Existenz des Biests und beeilte sich zugleich insgeheim, es zur Strecke zu bringen. Deshalb reisten er und seine Söhne umher, immer auf der fieberhaften Suche nach dem Wesen. Sicherlich, er mied die Menschen, doch er wünschte ihnen, bis auf einige Ausnahmen, nicht den Tod. Nicht diesen grausamen Tod.
    An diesem Tag hatte er die Wolfsangeln in der Nähe des Dorfs kontrolliert und darin nichts weiter als einen zappelnden Fuchs gefunden, dem er mit seinem Jagddolch die Kehle aufschlitzte und das Fell abzog. Das Fleisch, die Innereien, das Blut hatte er rund um den Köder verteilt, um die Bestie anzulocken. Antoine und Pierre überprüften die weiteren Fallen in der Umgebung und sollten in Chaulhac zu ihm stoßen.
    Zwei Gestalten kamen im Licht des Mondes die Straße herab auf ihn zugelaufen. Die größere der beiden trug ein Bündel auf den Armen; ihre Musketen hatten sie auf den Rücken geschnallt.
    »Pierre, Antoine? Seid ihr das?« Er erkannte die Gesichter hinter den aufgestellten Kragen erst, als sie vor ihm standen. Dafür sah er das Blut, das als schwarze Flecken und Spritzer an ihren Kleidern haftete, sofort. Das

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