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Ritus

Ritus

Titel: Ritus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz
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aufhängte. Sollte es eine Mahnung an die Erben sein?
    Er versank tiefer in dem Sessel, den er mit dem Rücken zu einem großen Bücherregal geschoben hatte. Auf diese Weise behielt er beide Türen und das Fenster im Auge. Den weißen Lackledermantel hatte er trauergerecht gegen einen schwarzen Gehrock ausgetauscht. Lederhose, Stiefel und schwarzer Pulli machten ihn auf dem dunklen Polster beinahe unsichtbar.
    In den gleichen Sachen hatte er vor einer Woche am Grab gestanden. Johann von Kastell war seit sieben Tagen unter der Erde. Seine Asche ruhte auf dem Münchner Waldfriedhof, die Beisetzung hatte im kleinsten Kreis stattgefunden. Im Grunde hatte Eric nicht ausgereicht, einen Kreis zu bilden, aber so lautete nun mal die Umschreibung für einsames Leben und einsames Begrabenwerden.
    Sicher, einige Menschen wären gekommen. Er hatte aber darauf verzichtet, eine Todesanzeige zu schalten oder Einladungen zu verschicken. Infolgedessen kamen weder die entfernten Bekannten, die man nie vermeiden konnte, noch die Verwandtschaft mütterlicherseits, um an der Familiengruft pro forma um einen Menschen zu weinen, den sie niemals richtig gekannt hatte. Johann von Kastell hatte sie gelegentlich mit Geld unterstützt und an Feiertagen Päckchen geschickt. Mehr nicht. Er hatte seine Frau geliebt, nicht aber deren Eltern, Tanten, Onkel und Cousinen.
    Aus der Familie von Kastell gab es niemanden mehr. Eric war seit der Nacht nach Allerheiligen der Letzte im gefährlichen Geschäft, das akut von der Auflösung bedroht war. Seinem Erbe. Oder zumindest dem bedeutenderen Teil davon. Um über den Rest informiert zu werden, saß er jetzt im Büro des Nachlassverwalters.
    Am liebsten wäre er wieder gegangen, denn das Warten war nicht gut. Es erlaubte zu vielen Gedanken, durch die Mauer zu dringen, die er um sich errichtet hatte. Der Schmerz über den Verlust seines Vaters, die Ungewissheit, wer das Anwesen gesprengt hatte, die Frage, wie es nun weitergehen sollte.
    Alles lag in Trümmern: das Haus, das Labor, sein Leben. Für ihn bestand kein Zweifel, dass die Beute zum ersten Mal den Spieß umgedreht und ihn tief in die Eingeweide der Jäger gerammt hatte. Noch fühlte sich Eric wie gelähmt, aber er wusste, dass die Jagd bald von Neuem beginnen musste.
    Er fragte sich immer wieder, weswegen sein Vater allein zu Upuaut gegangen war. Seine Zeit als Kämpfer hatte er schon lange hinter sich gelassen, er war zum Denker des Teams geworden und konzentrierte sich auf die Nachforschungen – und die Wissenschaft. Der Gedanke an ein Heilmittel für die Seuche begann immer stärker, sein Leben zu beherrschen. Eric hingegen übernahm die weltweiten Einsätze. Er teilte die Begeisterung für Reagenzgläser und Medizin nicht, hatte sich aber dennoch damit beschäftigen müssen. So lautete die Forderung seines Vaters. Leider hatte er sich nicht genug damit beschäftigt – und stand nun hilflos da.
    Er beugte sich nach vorne und drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage, die auf dem Schreibtisch des Nachlassverwalters stand. »Wären Sie so nett und bringen mir einen Kaffee, bitte?« – »Sehr gerne, Herr von Kastell«, meldete sich die Vorzimmerdame. Sie erinnerte ihn an Severina, auch wenn sie sicherlich zwanzig Jahre älter war. Doch das sollte bei Frauen nichts heißen, wie er schon festgestellt hatte. Sie blieben Frauen und hatten das gleiche Liebesverlangen wie Achtzehnjährige. Meistens wussten sie im Vergleich zu den jungen Dingern besser, was sie wollten. Eric grinste. Sicherlich hatte Severina inzwischen herausgefunden, dass niemand Geringeres als er selbst der Schöpfer jenes Bildes gewesen war, das sie gemeinschaftlich ramponiert hatten. Deswegen hatte der Galeriebesitzer auch so zurückhaltend reagiert. In den Zeitungen stand am nächsten Tag zu lesen, dass der Künstler das Bild während der Vernissage einer Überarbeitung unterzogen hätte. Es wurde tatsächlich als neue Kunstform propagiert: Abstract axpression. Was für eine Scheiße.
    Die Vorzimmerdame trat nach einem kurzen Klopfen ein. Der Stoff ihres grauen Kleides raschelte leise. Sie warf Eric einen freundlichen Blick zu und stellte den dampfenden Kaffee ab. »Herr Laurentis kommt sofort. Es kann nicht mehr lange dauern«, vertröstete sie ihn routiniert. »Möchten Sie etwas Gebäck dazu? Oder einen Cognac?«
    Er fand ihr Parfüm viel zu aufdringlich, um sich näher mit ihr zu beschäftigen, und hoffte, dass sie rasch wieder ging. Es gab beinahe nichts Schlimmeres als

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