Ritus
einem Gott wissen, der ihn immer wieder ohne Grund leiden ließ. Seine Abkehr vom Kreuz machte ihn bei den Menschen nicht beliebter, was ihm im Gasthof erneut vor Augen geführt worden war.
Er verdrängte die Gedanken. »Kommt«, sagte er leise und eilte die Straße hinab, die sie aus Chaulhac hinausführte, während es erneut zu schneien begann.
Sie rannten, so schnell es eben ging. Erst als sie die wenigen Lichter des Dorfs hinter sich gelassen hatten, atmete Jean auf. Nun konnte nicht mehr allzu viel geschehen. Niemand hatte sie zusammen mit dem toten Knaben gesehen.
»Wir müssen hier entlang.« Antoine überholte seinen Vater und führte ihn zu der Stelle auf dem Feld, wo er und Pierre den grausigen Fund gemacht hatten. Er schaute unterwegs nicht ein einziges Mal auf den Boden, um nach den Spuren zu suchen. Anscheinend hatte er sich den Weg genau eingeprägt.
Als sie dort anlangten, legte er die Leiche des Jungen in die Kuhle und betrachtete versonnen, wie die Flocken auf dem inzwischen abgekühlten Körper liegen blieben und ihn mit einer feinen Decke versahen. In weniger als einer Stunde würde er nicht mehr als ein kleiner Hügel auf dem Feld sein. Glücklicherweise wären auch ihre eigenen Fußspuren und das Blut bald nicht mehr zu erkennen.
»Kommt. Wir haben keine Zeit zu verlieren.« Der Schnee zwang die Jäger zur Eile. Jean erkannte die Abdrücke der Bestie gerade noch gut genug, um ihnen in den nahe liegenden Wald zu folgen. Seine Söhne flankierten ihn mit gespannten Musketenhähnen und hielten sich bereit, auf die Bestie zu feuern. Doch es wurde dem erfahrenen Wildhüter alsbald klar, dass er sich die Suche sparen konnte. Die Flocken fielen viel zu dicht und verwischten die Fährte.
»Kehren wir nach Chaulhac zurück?«, fragte Antoine gähnend. »Es ist sehr spät, ich friere erbärmlich, und die Bestie bekommen wir nicht zu Gesicht. Ich kann ihre Spuren nicht mehr sehen. Wir hätten Surtout mitnehmen sollen. Er könnte sie aufspüren.«
»Der Hund bleibt in Ténazeyre, bei der übrigen Meute«, erwiderte Jean schroff. »Die Menschen reden schon genügend über uns.«
Pierre wirkte nicht weniger erschöpft, aber seine braunen Augen blickten entschlossen hinter dem eisüberzogenen Schal hervor. »Wir sind ihr dicht auf den Fersen«, wandte er sich an seinen Vater. »Lass nicht zu, dass wir morgen oder übermorgen von neuen Opfern hören. Es ist der Tag der Geburt des Herrn. Wir können ihn mit dem Tod eines Teufels feiern!«
Jean klopfte ihm auf die Schulter. »Lass es gut sein, Pierre. Dein Bruder hat Recht, es bringt nichts. Und wer weiß, wohin uns die Morde der Kreatur morgen führen.« Er ging auf den Waldrand zu, um sich nach Lichtern umzusehen, die durch das fallende Weiß schimmerten; sie würden ihnen den Weg zu einem Gehöft weisen, in dem man ihnen bei diesem Wetter sicher zu übernachten erlauben sollte. Zurück in das kleine Dorf wollte er nicht mehr.
Pierre stapfte eilends durch den Schnee und stellte sich ihm in den Weg. »Vater, es ist unsere Pflicht!«, rief er energisch und riss den Schal herab. »Wir tragen die Verantwortung dafür, dass sie unter den Menschen wütet. Der Heiland wird uns am Tag des Jüngsten Gerichts noch härter strafen, wenn wir nicht alles tun, um unsere Schuld zu tilgen.«
Jean entgegnete nichts. Stattdessen deutete er auf ein helles Leuchten zwischen dem rieselnden Schnee und setzte sich an die Spitze des Zuges. Es würde keine weitere Diskussion geben. Antoine seufzte erleichtert, entspannte vorsichtig den Hahn seiner Muskete, schritt an seinem Bruder vorbei und folgte dem Vater.
Wütend trat Pierre in den Schnee. »Frohe Weihnachten, Bestie«, murmelte er, den Kopf in Richtung des dichten Unterholzes gewandt. »Mein Vater hat dir soeben das Leben geschenkt.« Er trottete hinter den beiden Männern her und glaubte zu fühlen, wie sich die leuchtendroten Augen ihres Feindes aus dem Schutz des Gebüschs in seinen Rücken bohrten. Pierre schauderte und sah sich ein letztes Mal um, konnte aber im Schneegestöber nichts erkennen.
IV.
KAPITEL
München, 11. November 2004, 10:59 Uhr
Eric betrachtete das Bild an der Wand neben der mit schwerem Stoff bespannten Tür. Es war ein Kunstdruck von Caravaggios Falschspielern: Drei Gecken spielten Karten, zwei betrogen, um den dritten auszunehmen. Er fand es merkwürdig, dass ein Nachlassverwalter ausgerechnet dieses Werk eines der einflussreichsten Maler des italienischen Barocks in seinem Büro
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